piwik no script img

führerkunde mit vigoleis thelen von WIGLAF DROSTE

Von 1931 bis 1936 lebten der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen und seine Frau Beatrice auf Mallorca, 1953 erschien Thelens Roman über diese Jahre: „Die Insel des zweiten Gesichts“. Das Buch ist mehr wert als alles, was die komplette „Gruppe 47“ zustande brachte. Ohne trivial naturalistisch zu werden, gelingt es Thelen, das Leben selbst zu schildern, in seiner Mischung aus Verworrenheit, burlesker Komik, Absurdität, Verzweiflung, Widrigkeit, Gemeinheit und dieser niederstreckenden Schönheit, die immer wieder alles andere bezwingt.

Thelens Geheimnis ist seine Zurückhaltung: Er will nicht Recht haben und nicht tonangebend sein, nicht im Leben und auch nicht beim späteren Erzählen. Das unterscheidet ihn von aller Belehrungs- und Gesinnungsliteratur, ganz gleich, welche Sorte davon gerade Konjunktur hat. Thelen inszeniert sich nicht selbst als begnadeten Romancier, er hält Distanz, verliert den Humor nicht und lässt seinen Geschichten den Vortritt vor dichterischer Eitelkeit. So entsteht Wahrhaftigkeit, ganz unprätentiös.

Frei vom pastoralen Sound der Kalenderblätter kommt Thelens Weisheit daher: „Glücklichsein ist eine Kunst. Die wenigsten Menschen beherrschen sie. Wirklich glückliche Menschen sind so selten wie Christen, die an Gott glauben.“

Eine auf 162 Hörspielminuten gestraffte Fassung (Ullstein Hörverlag 2003) dieses viele hundert Seiten starken Lebensromans kann naturgemäß kaum mehr sein als eine Werbung dafür, „Die Insel des zweiten Gesichts“ selbst und ganz zu lesen. Der dramaturgische Einfall, als Zwischenmusik für die Geschichte eines auf Mallorca lebenden Schriftstellers ausgerechnet dumpf holzaugemäßig immerzu eine Schreibmaschine und ein Paar Kastagnetten klappern zu lassen, ist bestürzend flachköpfig, doch wenn die Stimmen der Hauptsprecher Traugott Buhre und Ulrich Matthes nicht vom depperten Knatterattat unterbrochen werden, bringen sie die Schelmengeschichte des 20. Jahrhunderts gut auf den Weg.

Als die finanziell äußerst mühsam sich durchschlagenden Liebenden Beatrice und Vigoleis sich als Reiseführer verdingen, bekommen sie von ihrem Chef die Hauptlektion in Führerkunde gratis: „Der Führer darf nie eine Antwort schuldig bleiben. Der Führer weiß alles. Merken Sie sich das!“ Mit diesem Führerexperten haben sie länger zu tun – er steigt mit Hitler auf, wird deutscher Konsul und begehrt, sie parteipolitisch braun zu erfassen. „Wir kannten uns gut. Er stand ganz links, ein kleiner Angestellter in einem Reisebüro und wollte hoch hinaus. Er spähte aus nach Hammer und Sichel. Da witterte er anderes Heil.“

Was Nazitum aller Couleur in seinem Kern und seinem Wesen nach ist, hat Albert Vigoleis Thelen ohne selbstgefällige Antifa-In-die-Brust-Schmeißerei gültig definiert: „Das Rezept ist jedem bekannt. Als Junge habe ich es oft ausgeführt: ein Glas, eine Hand voll Heu. Man stellt die Brühe in die Sonne, bis sich die Jauche gebildet hat. Dann einen Tropfen unter das Mikroskop: Es wimmelt von hin und her schießenden Lebewesen, den Aufgusstierchen, und wenn sie auf dich zuwimmeln und du hebst nicht den Arm, dann heben sie ihn und schlagen dich tot.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen