Metastasen der Rache

„Es ist eine grausame Welt, aber es ist unsere Welt“: Elias Perrig hat am Stuttgarter Staatsschauspiel die deutschsprachige Erstaufführung von Peter Verhelsts Shakespeare-Adaption „Romeo und Julia (Studie eines ertrinkenden Körpers)“ inszeniert

VON CLAUDIA GASS

Es ist die alte Geschichte: Romeo und Julia, Abkömmlinge zweier verfeindeter Adelsfamilien in Verona, verlieben sich mit dem Überschwang und der Absolutheit eines durch nichts zu erschütternden wahrhaftigen Gefühls, wollen diese Liebe gegen alle Widerstände leben und finden darüber den Tod.

Anders als Shakespeare aber entwirft der flämische Autor Peter Verhelst in seiner Neudichtung „Romeo und Julia (Studie eines ertrinkenden Körpers)“ ein nihilistisches, gewalttätiges Universum. „Ein Volk von Todesgerippen“, in dessen Adern wie ein Krebsgeschwür „Metastasen der Rache“ wuchern, taumelt in diesem Endzeitszenario dem Untergang entgegen, gesteuert von einem unausweichlichen Todestrieb. Und Verhelst beschreibt eine Männergesellschaft. Der Krieg, das allgegenwärtige Symbol des Messers, beherrscht auch das Private bis in die Sexualität. Hier kommen Männer nachts zu ihren Frauen wie Soldaten, das männliche Geschlecht ist ein „Dolch aus Fleisch“.

Der 41-Jährige fasst das in eine mit Metaphern aufgeladene, kunstvolle und doch sehr heutige Sprache – ein Text von fast rauschhafter Wucht und kompromissloser, erschreckender Düsternis. Das Stuttgarter Staatsschauspiel hat mit dem bislang an deutschen Bühnen kaum gespielten Dramatiker, Romanautor und Lyriker eine veritable Entdeckung gemacht. Fünf Jahre nach der Uraufführung durch die niederländische Theatergruppe Hollandia, mit der Friedrich Schirmers Bühne eine intensive Zusammenarbeit pflegt, fand jetzt in Stuttgart die deutschsprachige Erstaufführung von Verhelsts „Romeo und Julia“ unter der Regie von Elias Perrig statt.

Der Bühnen- und Kostümbildner Dirk Becker hat die Spielstätte, das Kammertheater, in eine Art schwarze Höhle verwandelt. Schwarz ist auch die dominante Farbe der mit Barock- und Kampfsportzitaten spielenden, modernen Kostüme. Das Publikum verfolgt das Geschehen von zwei Seiten aus. Der ganze Raum, der von einem roten Läufer durchzogen und von einem überdimensionalen Seziertisch in der Mitte beherrscht wird, dient den zwölf stets präsenten Schauspielern als Bühne.

Mit diesem kargen, abstrakten Raumkonzept korrespondiert auch Perrigs Umsetzung. Bis auf die Kampfszenen und wenige innige Küsse und Umarmungen zwischen Romeo und Julia findet kaum Interaktion statt, die Schauspieler sind selten einander zugewandt, sprechen meist ins Off – vereinzelte, zu keiner Kommunikation fähige, um sich selbst kreisende Individuen. Elias Perrig verweigert auch jegliche konkret-anschauliche Ausgestaltung des Geschehens. Die Balkonszene findet auf dem OP-Tisch statt, die Liebesnacht gar völlig im Dunkeln. Perrig ist ganz auf die Sprache konzentriert. Insbesondere wenn sich simultan gesprochene Sequenzen und das Sirren von Schwertern in Biber Gullatz’ Geräusch- und Musikkomposition wie zu einem vielstimmigen Sprachkonzert verbinden, entsteht im Bild eine intensive, fast unheimliche Entsprechung der textlichen Ebene.

Wohl um den bildgewaltigen Text nicht noch pathetisch zu überhöhen, lässt Perrig seine Akteure sehr artifiziell, mal fast beiläufig, dann wieder mit geballter körperlicher Energie sprechen und agieren. Das Konzept geht nicht immer auf, weil so ein zu hohes Maß an Distanz zu den Figuren und dem höchst emotionsgeladenen Geschehen entsteht. Und es gelingt den Schauspielern nicht immer, diesen Spagat zwischen grotesker Überzeichnung und einer menschlichen Dimension ihrer Figuren umzusetzen. Pia Podgornik als Gräfin Capuletti versteht es am eindringlichsten, auch den zerstörten Menschen zu zeigen. Eine trotzige, selbstbewusste, aber auch anrührende Julia ist die mit viel Präsenz agierende Katrin Bühring. Bernd Gnann gibt den Romeo sympathisch ungekünstelt, bleibt aber etwas blass.

„Es ist eine grausame Welt, aber es ist unsere Welt“, konstatiert Elmar Roloff als Fürst resigniert in seinem Schlussmonolog. Peter Verhelst hat in Shakespeares Liebestragödie das Heute wiederentdeckt und Elias Perrig dafür in seiner intellektuellen Inszenierung eine zeitgemäße Theaterästhetik gefunden. Schade nur, dass uns dieses Heute teilweise unberührt lässt.