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Norwegens stiller Osten

Ein Rentier, das unter den Lärchen verschwindet, eine Landschaft, die sich seit 10.000 Jahren nicht verändert hat. Eine Busreise zum Femundensee, eines der entlegensten Gewässer Europas

VON THOMAS FEIX

Die Gestalt des Rentiers. Aus dem Bus heraus sehe ich sie. Schöner Rumpf, schöner Hals, Riesengeweih – ein Bulle, auf der Straße nach Synnervika, Ostnorwegen, Provinz Hedmark, 300 Kilometer nördlich von Oslo. Mit einem Satz ist er unter den Lärchen, dann ist er weg. Die beiden Frauen in der Sitzreihe neben mir haben das Tier nicht bemerkt, sie unterhalten sich. Im Winter minus 20 Grad am Tag, sagt die eine. Stimmt das? Die andere nickt. Nachts bis minus 40, 50 Grad, sagt sie. Und das bei stets klarem, wolkenlosem Himmel.

Von Røros, der alten Kupferstadt, ist der Linienbus am Morgen abgefahren, zur Fähre hin, die mich nach Elgå bringen wird, drei Stunden über den Femundensee. Elgå, kleiner Ort, 50 Einwohner, im Nationalpark Femundsmarka. Vielleicht kriege ich dort, im südlichsten Rentiergebiet Norwegens, eine Rentierkuh zu sehen und ein Kalb, vielleicht sogar eine ganze Herde. Außer mir und den beiden Frauen ist niemand im Bus. Ich höre ihnen weiter zu.

Deutsche die eine, Norwegerin die andere, Ines und Runa, wie sie sich gegenseitig rufen. Die Landschaft, in die wir kommen werden, sagt Runa auf Deutsch, hat sich seit 10.000 Jahren nicht verändert. Wohl kaum Leute dort, sagt Ines. Sehr wenige, sagt die Runa. Dafür umso mehr wilde Tiere, Luchs, Wolf, Vielfraß und Bär. Uuuh, machen die beiden und gruseln sich. Sie wollen ebenfalls nach Femundsmarka. Sie sind Freundinnen, gemeinsamer Urlaub, ohne Mann, ohne Kind, nur sie beide allein. Was sind denn da für Bären?, fragt Ines jetzt. Braunbären, sagt Runa. Und wie bei uns in den Alpen werden sie erschossen? Die Bären im Femundsmarka, sagt Runa, haben mehr Respekt vor uns, als wir vor ihnen. Ines erzählt nun davon, wie schön sie es findet, dass es immer mehr Norweger gibt mit so gutem Deutsch. Und immer mehr Deutsche, sagt Runa, entdecken die norwegischen Winter, nachdem die in Deutschland seit Jahren sehr mild sind.

November. Es hat viel geregnet die Monate zuvor, jetzt stürmt es. Kalt die Tage und Nächte, nass und kalt. Schwerer Dunst, manchmal eine fahle Sonne, die nicht wärmt. Grün das Laub der Nadelbäume, giftgrün, hellgrün, samtgrün, beinahe alle Nuancen. Femundsmarka, von der letzten Eiszeit und ihren Gletschern geformt. Die kälteste und schneereichste Region Norwegens, hoher Pulverschnee. Skilaufen, Wandern, Zelten, Eisangeln, Jagen – alles in der Stille.

Weniger als ein Einwohner pro Quadratkilometer, auf einer Fläche so groß wie die griechische Insel Korfu. Im Femundsmarka-Nationalpark soll es möglich sein, zwei Wochen lang zu laufen und nicht einem Menschen zu begegnen. Der Park hat Gebiete mit nichts als Felsen und Geröll, Seen und Flüssen und dem einsamen Flug eines Vogels am Horizont. Kein Dosenmüll auf den Lagerplätzen, kein Klopapier, keine Kippen. Kein Auto auf der Straße, kein Motorboot im Wasser, kein Flugzeug und kein Hubschrauber in der Luft. Überhaupt nichts von Verbrennungsmotoren Bewegtes. Nur Tiere, die lautlos sind, vorsichtig und schnell, Moschusochsen und Elche darunter, die überraschend angreifen und deshalb gefährlich sind. Und Bäume, Kiefern, 500 Jahre alt. Selbst wenn sie abgestorben sind, fallen sie Jahrhunderte nicht um.

Und Beeren, gibt es da jetzt noch Beeren?, fragt Ines. Preiselbeeren, Blau- und Moltebeeren? Nein, sagt Runa. Keine Beeren mehr, die sind nur im August. Im Augenblick ist der Boden im Femundsmarka ein Teppich aus Flechten, Moosen und Farnen, die sich orangefarben und gelb eingefärbt haben, lauter Farbtupfer, wie auf einem impressionistischen Gemälde. Doch bald wird der Schnee kommen. Und der wird alles zudecken.

Der Bus nähert sich der Anlegestelle, die Fähre an der Pier kommt in Sicht. „Faemund II“ steht am Bug. Ein altes Schiff, alter Stahl, neue Maschine. Seit hundert Jahren fährt es von Synnervika nach Elgå und zurück, 120 Kilometer. Die Fähre ist die einzige Möglichkeit, Waren und Menschen in den Femundsmarka zu bringen. Ines und Runa steigen vor mir aus dem Bus, sie reden weiter, diesmal darüber, was sie an den kalten, dunklen Abenden tun. Am Kamin des Bryggeloft-Hotels von Elgå sitzen, essen, reden, planen, einen Aquavit trinken oder zwei und früh schlafen gehen.

Der Femundensee, einer der entlegensten Seen Europas. Die Kuppen der Berge weit im Hintergrund sind abgerundet durch den Gletscherschliff und daher sicher leicht zu besteigen. Viele Leute wollen runter nach Elgå und Femundsmarka, sie warten, eine wetterjackenrote Menge, Handschuhe, Mützen, Schals, sie haben Rucksäcke, Zelte, Schlafsäcke. Manche haben Ski dabei oder Schneeschuhe, die wie Tennisschläger aussehen.

Ich verliere Ines und Runa aus dem Blick. Stille und Ruhe, ab jetzt werden sie beginnen. Ich will Rentiere aus der Ferne beobachten, Elche und Moschusochsen. An Orten sein, die keiner kennt. In einer Berghütte übernachten, die verlassen ist. Klare, saubere Luft und der Geruch der Erde und des Schnees. Wochenlang – und dann irgendwann wieder zurück in der Zivilisation.

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