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Im Gestrüpp der Prophetie

DAS SCHLAGLOCH    von KERSTIN DECKER

Die Fundamente eines jeden Fortschritts sind konservativ, nur dass der Fortschritt das nie weiß

In Leipzig ziehen wieder die Montagsdemos durch die Stadt, genau wie vor dreizehn Jahren. Sogar der Pfarrer der Nikolaikirche ist noch derselbe. In Berlin wird das Deutsche Theater wieder politisch wie vor dreizehn Jahren und stellt sich eine große Plakatwand vors Haus. Selbst das Motto klingt fast gleich: „Aktion für mehr Demokratie!“ Im Kino läuft ein Film, in dem alles ist wie vor dreizehn Jahren, nur ein bisschen anders. Er heißt „Good Bye, Lenin“. Und Amerika benimmt sich genau so, wie die alten Kommunisten uns das immer einreden wollten. Bis vor dreizehn Jahren. Demokratie, haben sie gesagt, ist eine bürgerliche List. Demokratie ist die Tarnung der wirklichen Interessen des Kapitals. Vielleicht war das ihr klügster und ihr dümmster Satz zugleich. Auf jeden Fall war es ihr gemeinster. Alles ist wie vor dreizehn Jahren?

Gar nichts ist wie vor dreizehn Jahren. Denn der Richtungssinn der Prophetie hat sich verändert. Was ist in der Zwischenzeit eigentlich passiert? Seit dem 18. Jahrhundert bis vor dreizehn Jahren herrschten die Fortschrittspropheten. Im Osten noch viel mehr. Marx radikalisierte das Prophetentum nur, indem er das, was im alten Europa ohnehin in der Luft lag – die Aufklärung –, an einen spezifischen Träger binden wollte: das Proletariat. Das war ein folgenreicher Kurzschluss, aber auch eine suggestive Idee.

Man erkennt es daran, dass sogar Dieter Bohlen das gemerkt hat, denn der war mal in der DKP. Er hat das am Montag bei „Beckmann“ auch begründet, allerdings nicht direkt mit dem Verbund der beiden großen As – Arbeiterklasse und Aufklärung. Dieter Bohlen war in der DKP, weil er gegen alles war, hat er gesagt. Also so was wie Bakunin oder Stirner. Genau der Typ, den Kommunisten überhaupt nicht ausstehen können. Und dann hat Bohlen noch gesagt, dass er es für völlig normal halte, gegen alles zu sein. In einem bestimmten Alter.

Neben ihm saß Alexander, unser neuer Superstar, den wir so lange suchen mussten, und verkörperte den Riss der Generationen. Die Generation, die immer dafür war. Für was, wusste sie nicht genau. Aber das lag nicht an ihr, sondern an den letzten dreizehn Jahren. Es gab keinen Grund, überhaupt eine Meinung zu haben. Bohlen ist dann von der DKP weggegangen zu den Jusos, aber da musste er auch immer „Engels, Marx, Stamokap und so’n Zeug lesen“. Vielleicht hat er deshalb angefangen zu singen. Jedenfalls gehört Dieter Bohlen vielleicht zur letzten richtig politisierten Generation.

Wir nicht. Denn im Osten konnte man nicht mal zu den Kommunisten gehen, wenn man gegen alles war. Und dass das mit der Arbeiterklasse und der Aufklärung nicht stimmt, sah auch jeder. Die Arbeiterklasse früher in der DDR sah nämlich überhaupt nicht aus wie ein revolutionäres Subjekt, eher wie das universell gewordene Kleinbürgertum. Es gab welche, die haben ihr das vorgeworfen. Wir nie. Denn vor einem richtig revolutionären Subjekt hätten wir uns doch gefürchtet. Uns war eher nachrevolutionär zumute. Das lag irgendwann natürlich auch an Dieter Bohlen, denn dass Melodien wie „You’re my heart, you’re my soul“ einen Endpunkt bedeuten, haben wir gefühlt. Kurz vorher haben wir noch „Smoke on the water“ gehört, und das war der ganze Unterschied.

Obwohl also jeder am Beispiel DDR sehen konnte, dass die Arbeiterklasse und die Aufklärung nichts mehr miteinander zu tun hatten, lebten wir unter dem Horizont eines Aufgangs. Also unter einem quasi-prophetischen Horizont. Und das hatte einen ganz pragmatischen Grund. Irgendwas musste passieren mit der DDR. So wie sie war, konnte sie schließlich nicht bleiben. Nebenbei lasen wir alles, was konservativ war, auch aus zwei ganz pragmatischen Gründen: zum einen, weil es verboten war, und zum Zweiten wegen der Fundamente des Fortschritts. Denn die Fundamente eines jeden Fortschritts sind konservativ, nur dass der Fortschritt das nie weiß.

Und dann kam die Wende. Das war das Ende des prophetischen Zeitalters. Es gehört zu jedem Ende eines Zeitalters, dass die Stunde seines Endes wie die Stunde seiner Erfüllung erscheint. Darum war kurz vor der Maueröffnung im Osten alles wie Pfingsten im November. Ein millionenfaches universelles Zungenreden begann. Anbruch des intelligiblen Zeitalters, gefolgt ab 9. November vom Zeitalter der Banane. Gleich darauf wurde von vereinzelten Wissenschaftlern das Verschwinden der Geschichte bemerkt. So ein Humbug, riefen da die Realisten, natürlich gibt es die Geschichte noch. Sogar Kriege wird es wieder geben. Die Realisten sprachen, wie die Realisten das immer tun: Sie hatten Recht, ohne vorher nachgedacht zu haben. Das ist der Grund, warum wir die Realisten so verachten und sie maßlos bewundern zugleich.

Francis Fukuyama hatte nämlich einen Fehler gemacht. Er hatte gar nicht das Ende der Geschichte gemeint, sondern eigentlich wollte er über das Ende der Auftrittsmöglichkeiten für vorwärts gerichtetes Prophetentum sprechen. Also über die Unmöglichkeit, Illusionen zu haben. Denn die DDR etwa war ja nicht nur ein ganz und gar unmögliches Staatswesen, sondern zugleich die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, eine Illusion zu haben.

Bohlen musste bei den Jusos immer „Stamokap lesen“. Vielleicht hat er deshalb angefangen zu singen

Und sofort betrat ein neu-altes, lange ungehörtes Prophetentum die Bühne. Das waren die Unglückspropheten. Sie prophezeiten den Kampf der Kulturen, die viel größere Vitalität der Islamisten (Baudrillard) und dass die Welt zum Gestrüpp wird. Denn Postmoderne bedeutet auch das: Gestrüpp statt Prinzipien. Anfangs klang das beruhigend weit weg wie einst die Utopie des Kommunismus. Und fast genauso akademisch. Man las es und dachte: Nun gut, ist man also vorbereitet. Aber dann begannen wir die eigentliche Crux allen Prophetentums zu ahnen. Denn es ist so frustrierend, wenn das, was man schon gelesen hat, auch noch wirklich wird. Es ist lähmend. Als liefe die Wiederholung eines Films, den man schon kennt. Da war es früher doch besser, als das, was man las, nie wirklich wurde.

Sogar Leute, die wir nie zum Prophetentum gezählt haben, bekommen jetzt eine schauerliche Aktualität. Max Weber zum Beispiel. Weber hat den Geist Amerikas und des Kapitalismus aus dem Geist der protestantischen Sekten erklärt. Aber es war doch ein rein historisches Buch. Und nun kommt ein amerikanischer Präsident und spricht wie aus Webers Geist der protestantischen Sekten entsprungen. Wie ein seitenverkehrter alttestamentarischer Prophet. „Achse des Bösen“. Kein Aufklärer des 18. Jahrhundert hätte den ernst genommen. Aus jedem Salon wäre der rausgeflogen. Eine Innovation ist die „Achse“ ja nicht gerade. Reich, Achse. Das „Reich des Bösen“ waren wir. Und jedes Mal, wenn die Amerikaner uns „Reich des Bösen“ nannten, taten uns die alten Betonköpfe beinahe Leid.

Aber dass Amerika sich heute benimmt, wie die alten Kommunisten es immer erwartet haben, ist unfair. Unfair gegen uns. Wie die von vorgestern einen schon wieder anschauen. Mit diesem nachsichtigen Lächeln über die Kindergläubigen der Demokratie. Mit diesem metaphysischen Übermorgen-Blick.

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