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crime sceneWas schwer zu erzählen ist

Die Norwegerin Karin Fossum hat eine gewisse Sonderstellung innerhalb des Krimigenres. Psychologisch ambitionierte Kriminalromane gibt es viele, doch kein anderer Autor, keine Autorin beschäftigt sich so intensiv mit den psychischen Verstörungen, die den gewalttätigen Übergriff eines Menschen auf andere begleiten. Fossums Anliegen ist es dabei auch, zu zeigen, dass Folgen und Ursachen von Gewalt nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.

Ein solch ganzheitlicher Ansatz muss, literarisch gesehen, polyphon vorgehen und die Perspektive jeder der beteiligten Figuren einnehmen können. Viele überlieferte Genregesetze gelten für Fossums Romane daher nur in reduzierter Form. Das betrifft auch das immer noch häufigste zentrale Spannungselement, die Suche nach der Identität des Täters. Auch Fossums neuester Roman „Wer anders liebt“ zieht seine Spannung zunächst nicht aus der Täterfrage. Die Handlung setzt in Täterperspektive ein. Ein Mann trägt eine Leiche durch den Wald, auf der Suche nach einer Stelle, um sie abzulegen. Auf dem Rückweg zum Auto begegnet er einem Paar beim Spazierengehen. Perspektivwechsel. Aus Sicht der Frau wird nun die Geschichte des Paars erzählt, eine dumme, quälende Beziehungskiste. Dann finden sie etwas: einen toten, halbnackten kleinen Jungen. Was Fossum hier erzählen will, ist schwer, und schwer ist es auch, zu beurteilen, ob es ihr geglückt ist.

„Wer anders liebt“, das sind, klar, Pädophile. Der Junge wurde vergewaltigt und ist anschließend in einem Asthmaanfall erstickt. Kommissar Konrad Sejer ist auf seine wohlabwägende Art genauso ratlos wie wohl die Autorin selbst. Ratlos zunächst, wie der Täter zu fassen sei – als Leser erfährt man dessen Identität bald genug, doch Sejer und Kollegen finden ihn nur aufgrund eines Zufalls. Ratlos außerdem, wie das extreme Handeln des Täters einzuschätzen ist. Fossum geht auf einem schmalen Grat, wenn sie ihren Kommissar zu einem ihm bekannten Pädophilen schickt, um – ja, was eigentlich? Nicht um ihm neue Hinweise zu verschaffen, sondern ganz offensichtlich, um einen positiven Gegenentwurf zu jenem ersten Pädophilen anzubieten, der zum Mörder wurde; so betont grundsympathisch wird dieser Andere dargestellt. Das hat einen seltsamen Beigeschmack, so als müssten die Leser aufgeklärt werden, dass nicht alle Pädophilen Mörder sind, sondern auch ein paar richtig nette Kerle darunter sein können.

Ein Kriminalroman ist vermutlich nicht das richtige Instrument, mehrere hochkomplexe Fragen – warum Menschen zu Mördern werden können oder warum Menschen pädophil werden oder warum Frauen oft die falschen Männer lieben – auf einmal zu schultern. Fossum ist eine zu gute Autorin, um einfache Antworten zu liefern, sie lässt die Fragen schmerzhaft offen klaffen; und doch kann man das Gefühl bekommen, dass sie ein bisschen zu viel tut, um die Leser davon abzuhalten, selbst die falschen Antworten zu geben.

Abgesehen von diesem auffälligen Bemühtsein um politische Korrektheit ist der Roman auf bewährte Art spannend, was damit zu tun hat, dass manche ehernen Genregesetze eben auch für Karin Fossum gelten. Denn so klar die Täterfrage zuerst zu sein scheint, so rätselhaft wird es, als noch ein zweiter Junge verschwindet. Überraschend die Auflösung – weniger überraschend, dass auch sie nur ihren Sinn erhält, wenn man sie im Kontext des ewigen Kreislaufs der Gewalt betrachtet. KATHARINA GRANZIN

Karin Fossum: „Wer anders liebt“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Piper, München 2008, 248 S., 18 Euro

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