: Wie eine Symbiose
Warum die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein, die bis Sonntag auf der Eis-Kurzbahn-WM mitflitzt, nicht ohne ihren Trainer Joachim Franke auskommt, obwohl der sich mit Rücktrittsgedanken trägt
von MARKUS VÖLKER
Oftmals ähnelt das Verhältnis zwischen Trainer und Athlet einer Symbiose. Ein enges, mitunter untrennbares Zusammenspiel zu beider Nutzen hat sich herausgebildet. In der Natur kommt die Blattschneideameise nicht ohne Pilze aus, der Einsiedlerkrebs nicht ohne Seeanemone, der Hai nicht ohne Putzerfisch. Und irgendwie kommt Claudia Pechstein, die Eisschnellläuferin, nicht ohne Joachim Franke aus. Franke trainiert die Allrounderin seit 1991. Sie ist in den zwölf Jahren zu einer gläsernen Sportlerin für ihn geworden. Ein hochsensibles Gleichgewicht hat sich gebildet, das sich nach der Einzelstrecken-WM womöglich nicht mehr so leicht tarieren lässt. Franke, 62, denkt ans Aufhören. Schon seit längerem.
Vor zwei Monaten haben sich beide zusammengesetzt und einen Gesprächstermin nach der WM festgesetzt. Dann soll eine Entscheidung fallen. Beiden ist nicht wohl dabei, weshalb Franke zugibt, die Sache vor sich herzuschieben. Es ist ungeklärt, was passieren soll, wenn Franke die Symbiose löst. „Da liegen die Lösungen nicht ohne weiteres auf der Hand“, sagt der Trainer. Man müsse etwas finden, womit die Olympiasiegerin in Zukunft, bis Olympia 2006 in Turin, gut leben könne. Aber in Berlin gibt es keine Allrounder, denen sie sich anschließen könnte. Frankes designierter Nachfolger André Hoffmann soll laut Verband eher die Sprinter nach vorne bringen. Ein Wechsel zu einem anderen Stützpunkt schließt Franke aus, auch Pechsteins Sprung zu einem Privatteam.
Immer wieder hat Franke überlegt und gefragt: „Wie können wir das weiterführen?“ Sogar auf die krude Idee, seine Athletin nach Inzell zu lotsen, ist er gekommen, hat sie aber in einem Sekundenbruchteil wieder verworfen, weil eine Aussöhnung zwischen Anni Friesinger und Pechstein unwahrscheinlich ist. Auch der Weg der Monique Garbrecht-Enfeldt, die es in die USA in eine neue Umgebung gezogen hat, kommt für Pechstein derzeit nicht in Frage.
Claudia Pechstein hat, weil sie alles beim Alten belassen will, den Trainer um Hilfe und Unterstützung gebeten. „Mal sehen, was wir da machen können“, hat Franke sie vertröstet und sich dann gesagt: „Du kannst die junge Frau nicht hängen lassen.“ Er wird wohl ein weiteres Jahr dranhängen, obwohl er wegen seiner gesundheitlichen Probleme nicht mehr 250 Tage im Jahr in der Welt herumreisen will. Doch so einfach lässt sich die verwachsene Verbindung nicht trennen, ein abruptes Ende würde Narben hinterlassen, die beide verhindern wollen. Kompliziert wird es obendrein dadurch, weil es Franke stets fertig brachte, aus dem physischen Potenzial der Läuferin, das er als „weit unter Niveau“ und „jenseits von gut und böse“ beschreibt, das Maximale zu machen – eine der erfolgreichsten Mittel- und Langstrecklerinnen.
Franke weiß, dass es im Leistungssport auch um die symbiotischen Effekte geht. „Weil Claudia nicht aus dem Vollen schöpfen kann wie eine Anni Friesinger oder Gunda Niemann, kommt es auf das Fingerspitzengefühl im Umgang mit ihr an, um die spezielle Aufmerksamkeit.“ Ein Augenmaß, das vielleicht kein anderer Trainer aufbringen könnte, jedenfalls nicht nach kurzer Zeit. Und auf lange Eingewöhnungsphasen will Pechstein, mit 31 eher im fortgeschrittenen Alter, verzichten.
Pechsteins Hardware verfügt nicht über die schnellste Taktfrequenz, wurde dafür aber mit Frankes spezieller Software gespeist, jährliche Updates inklusive. Das hat die schlechteren Systemvoraussetungen überdeckt. „Als ich sie 1991 übernommen habe“, erinnert sich Franke, „war sie eine höchst infektanfällige Athletin mit langen Ausfällen“. Sie habe damals falsch trainiert, mit zu hoher Pulsfrequenz. Erst sein Training, das er mit solch sperrigen Vokabeln wie „Bedingungsgefüge“, „Tagesregime“, „Summation“ und „physiologischen Adaptationen“ beschreibt, hat aus einer Sportlerin mit mäßigen Voraussetzungen eine Weltmeisterin gemacht. Beide wissen das. Es ging immer nur gemeinsam vorwärts. In Symbiose. Ohne die Wurzel der Hülsenfrucht wäre die Knöllchenbakterie ein hilfloses Wesen. Wie Pechstein ohne Franke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen