ein arabisches tv-tagebuch: Der Schriftsteller Sélim Nassib über den Irakkrieg aus der Perspektive von al-Dschasira
Dissonanzen im arabischen Äther
Man weiß nicht mehr so genau, aus welcher irakischen Stadt diese Bilder stammen, eine ununterbrochene Abfolge von zerbombten Straßen, zerstörten Gebäuden und einer Bevölkerung in Aufruhr. Al-Dschasira berichtet, dass die Nacht hart gewesen sei, die Intensität der Bombardierungen zugenommen und die Anzahl der Opfer sich verfielfacht habe. Die Schlacht um die Meinung geht weiter – mit Verkündigungen und Kommuniqués. Aber an diesem Freitagmorgen, Tag des Gebetes und der Proteste, richtet die arabische Welt ihren Blick auf das Kriegsspektakel – das wirkliche, das einen wachsenden Teil des Iraks überzieht.
Der Rücktritt des hohen amerikanischen Verantwortlichen Richard Perle, notorischer Falke und Architekt der Offensive, wird vom dem Sender aus Katar als Eingeständnis einer Niederlage präsentiert, genauso wie die Entscheidung, 120.000 zusätzliche amerikanische Soldaten in das Kriegsgebiet zu schicken. Das Bild in seiner Gesamtheit folgt derselben Kohärenz: Angesichts eines erbitterten Widerstandes, den sie nicht vorausgesehen haben, beginnen die Amerikaner und Briten, ihre Strategie zu ändern. Sie haben angekündigt, die zivile Infrastruktur aussparen zu wollen, sind aber derzeit gezwungen, Telefonzentralen zu bombardieren und damit die Kommunikationswege eines Großteils der Bevölkerung zu unterbrechen.
Irakisches Militär hat das Feuer auf tausende von Zivilisten eröffnet, die versuchten, aus Basra zu fliehen – hungrig und ohne Trinkwasser. Der Sender aus Katar bringt diese Nachrichten, die auf CNN und BBC verbreitet werden, ohne Kommentar. Aber er hält sich weder bei den Bildern von Lastwagen mit Hilfsgütern auf, die von der Bevölkerung überfallen werden, noch bei solchen der Flüchtlinge von Basra, die zu Fuß beim Vorposten der britischen Armee ankommen.
„Im Prinzip bin ich gegen den Krieg. Aber ich verstehe diese arabischen Intellektuellen nicht, die ihr Leben damit verbringen, die arabischen Regime angreifen – und sich dann empören, wenn das blutigste unter ihnen angegriffen wird.“ Diese Äußerungen sind auf al-Dschasira nicht zu hören, aber auf der Welle des kuwaitischen Fernsehens. Ausgestrahlt inmitten einer Bilderflut zum Ruhme des amerikanisch-britischen Kräfte, sind sie allein aus diesem Grund schon verdächtig. Auf den Kanälen der anderen arabischen Länder herrscht ein allgemein feindseliger Ton gegenüber der Invasion, und eine hölzerne Sprache versteht sich von selbst. Im Vergleich dazu ist der Sender aus Katar ein Musterbeispiel an Objektivität. Obwohl er prinzipiell den Konsens innerhalb der arabischen öffentlichen Meinung widerspiegelt, überträgt er ohne Umschweife folgenden Gedanken eines kurdischen Intellektuellen: „Auf al-Dschasira hört man viel die Meinung der einen, aber nicht so viel diejenige der anderen.“
SÉLIM NASSIB
Der libanesische Schriftsteller Sélim Nassib begleitet in seiner Kolumne die Berichterstattung des arabischen Nachrichtensenders al-Dschasira
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