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normalzeitHELMUT HÖGE über die Karl-Marx-Str.

„Dort sind sie zu Hause, in Woolworth-Jeans (zumeist Ausverkaufsware bis 49 DM) und von Raubzügen auf AL-Volksvertreter erbeuteten Schlabberpullis.“ (Der frühere Neuköllner CDU-Bürgermeister Arnulf Kriedner)

Die Neuköllner Karl-Marx-Straße hat die größte Dichte an Handyläden und Schnäppchenmärkten, dafür machten dort mehrere Kaufhäuser dicht. Nun gibt es jedoch eine Initiative von Gewerbetreibenden, mit Geldern vom Senat: die „Aktion! Karl-Marx-Straße“ mit dem „Leitbild 2020“. Dieses verspricht, dass die Einkaufsstraße „wieder erfolgreich“ und sogar „ein junges, buntes Hauptzentrum Berlins sein wird“.

Zu den „Revitalisierungs-Maßnahmen“ gehörten am vorvergangenen Wochenende drei „Mode-Events“: In dem allzu schwach frequentierten „Arcaden“-Komplex hatte Christoph Böhm (Galerie „bauchhund“) eine „Laufsteg-Bühne“ aufgebaut, mit der die Passanten auf einem roten Teppich à la Wowi ins Innere des „Centers“ gebeten und mit „Scheinwerferlicht und Blitzlichtgewitter“ empfangen wurden. Mehrere Monitore übertrugen ihr dummes Gesicht. Das Medienereignis hieß denn auch „Neukölln zeigt Gesicht“.

In der leerstehenden alten Post schräg gegenüber fand derweil im Foyer „Threading Trends Berlin“ statt – mit Textilkunst aus Berlin und New York, einer „Nacht und Nebel“-Aktion und einer „Anarcho-Häkelrunde“ von Amy J. Klement. Die Publikumsmassen zog es indes nach oben in die Schalterhalle – zur Modemesse „Neukölln zieht an“. Eine Initiative des Vereins „Wirtschaft und Arbeit in Neukölln“ und des Bezirksamts, Abteilung Wirtschaftsförderung, die von der Projektmanagerin Sabine Hülsebus organisiert wurde.

Die Veranstalter hatten sich ein professionelles „Kuratorium“ geholt: die Galeries Lafayette, eine Modeschule, eine Event-Agentur, einen Modeförderverein, einen Fashion-Week-Ausrichter und eine Senatsverwaltung. Das kostetete – und deswegen war die Liste der Sponsoren noch länger: C&A, eine Model-Agentur, eine Reinigungsfirma, ein Stadtmarketing-Büro und so weiter. Das Kuratorium wählte aus den vielen wegen der billigen Mieten im „Problembezirk“ angesiedelten Mode-Designern, die sich beworben haben, „die 25 besten aus“. 15 bekamen jeweils einen Stand und 10 einen Gemeinschaftsstand. Für die Teilnahme mussten sie 50 Euro zahlen, dafür bekamen sie kostenlos Werbung, unter anderem in der „Abendschau“, und einen Beitrag im Katalog („Lookbook“).

Quer durch die Schalterhalle hatte man zudem einen „Catwalk“ gebaut, auf dem Models beiderlei Geschlechts ihre Entwürfe vorführten. Zwei Designer präsentierten Herrenmode. Anschließend wurde ein Preis verteilt – an die „Ökoluxus“-Modemacherin Magdalena Schaffrin aus der Neuköllner Auguststraße. Sie darf ihre Loha-Klamotten nun drei Monate lang im Kaufhaus Lafayette verkaufen. „Das Ganze war ein großer Erfolg und eine gelungene Standort-Maßnahme“, befand die Projektmanagerin anschließend.

Am Tag darauf machte das FAZ-Feuilleton leider mit einem großen Mode-Artikel auf, dessen erster Satz da lautete: „Die Wirtschaftskrise wird die Mode verändern.“ Der auf Georg Seeßlens Thesen zur globalen Prostitution im Neoliberalismus basierende Text von Ingeborg Harms kam zu dem Schluss: „Man übte sich darin zu blenden … Alles reimte sich auf Sport und Sexappeal.“ Aber nun sei „diese Ästhetik auf den Laufstegen genauso abgemeldet wie auf den Straßen … Phantasien von Aufbruch, Flucht und Rückzug auf das Essentielle liegen in der Luft: zum Beispiel Landleben und Selbstversorgung. Eskapismus ist die stilvolle Antwort auf ein leeres Konto.“

Kaum haben wir gelernt, was das US-Wort „Loha“ überhaupt heißt – in der taz erst vor wenigen Wochen: „Lifestyle of Health and Sustainibility“, da müssen wir uns von „Gesundheit“ und „Nachhaltigkeit“ auch schon wieder verabschieden, erst recht von allem „Ökoluxus“-Fummel. Das trifft den Ku’damm, die Friedrichstraße, die Schloßstraße und die Karl-Marx-Allee schwer – erst recht die Neuköllner Karl-Marx-Straße und ihr brandneues Leitbild „jung, bunt, erfolgreich – handeln, begegnen, erleben“.

Macht aber nichts. „Vom Ernst des Lebens halb verschont / ist der schon, der in Neukölln wohnt!“, heißt es in einem Beitrag von Thomas Kapielski aus der Weserstraße zur „Inventur“-Ausstellung des Neuköllner Heimatmuseums.

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