kursbücher: Ein Stück Geschichte
Weiß einer, wo Eydtkuhnen liegt? Macht nichts, schließlich ist das ostpreußische Städtchen an der russischen Grenze so sehr Geschichte wie Ostpreußen selbst.
Geschichte ist das Ding von Historikern, und im Falle Eydtkuhnens gab es da seit 1860 ein Tool, das so wertvoll war wie ein Geheimes Staatsarchiv – das Kursbuch der deutschen Eisenbahnen. Aus ihm ließ sich nicht nur bestimmen, welche Bedeutung das Grenzörtchen einst hatte. An der Dichte der Bahnverbindungen auf der Ostbahn von Berlin nach Petersburg ließ sich auch der Stand der deutsch-russischen Beziehungen errechnen.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Berliner Senat etwas irritiert ist. Die Deutsche Bahn AG möchte das Kursbuch mit dem Wechsel zum Winterfahrplan abschaffen, zumindest in seiner gedruckten Form. Der Senat protestiert dagegen – und will sich für eine unabhängige Stelle zur Herausgabe von Fahrplänen starkmachen. Dafür will sich Berlin beim Bund einsetzen, teilte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung am Dienstag mit. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage heißt es im besten Junge-Reyer-Deutsch, die Bahn unterlaufe mit ihrem Vorhaben eine umfassenden Kundeninformation.
Nun sitzen auf den Senatorensesseln Berlins nicht mehr – wie einst – Historiker, sondern Juristen oder im Falle der Senatorin Diplom-Kameralisten. Aber auch die ahnen, dass Berlin ohne Kursbuch womöglich das gleiche Schicksal widerfährt wie Eydtkuhnen ohne Ostpreußen. Wo sonst können künftige Forschergenerationen erfahren, welche Orte von Berlin erreichbar sind – und welche nicht, weil dort die Menschen auf der Flucht sind und die Wildnis hereinbricht wie einst in Eydtkuhnen.
Die Bahn stört’s freilich nicht. Bekanntlich schaut Bahnchef Hartmut Mehdorn nicht zurück in die Vergangenheit, sondern auf Aktienkurse – und damit in die Zukunft. Oder aber er ist bald selbst Geschichte. Und die gibt es dann, wie die Kursbücher, auf CD-ROM. UWE RADA
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