Gegen die Lüge des Scheins

Kulturhauptstadt Europas 2010 zu werden, ist eine humanistische Aufgabe. In Köln bestimmt Glanz die Bewerbung. Die Voraussetzung für eine Kulturstadt indes ist der Beitrag der Kulturschaffenden

VON JOE KNIPP

Köln ist ein schlafender Riese, aber es gibt zu viele Zwerge, die ihn am Aufwachen hindern wollen. Deshalb muss Köln Kulturhauptstadt Europas werden. Wir haben das größte Entwicklungspotenzial. Daher sind zur Bewerbung viele freie Kulturschaffende zusammengekommen und haben, unentgeltlich wie immer, Papiere geschrieben. Dann kam eine Agentur, und schon ist mancher Gedanke kaum noch wiederzuerkennen. Köln – „Global Player“ steht im Internet. Toll! Fehlt nur noch: Köln ist stückweit ne ,coole location'. Dazu dann die sicher schon geplante Galashow in der Kölnarena.

Ich habe einen Traum. Wie wäre es mit politischer Kultur, Fußballkultur, einer Kultur des respektvollen Umgangs, mit Kunst, die erregt und dem Publikum zugewandt ist. Das wäre doch etwas. Das Spiel als Idee, das Spielerische als Methode. Der Sinn: mündige Bürger in einer mündigen Stadt.

Wir sprechen von Menschen. Von ihrem Lebensgefühl, ihrer Lust an einer Stadt. Kulturhauptstadt zu werden, ist eine humanistische Aufgabe.

Die Realität ist Schein: glitzernde Models, die in blitzenden Karossen durch Glasstädte donnern. RTL und Bild, eine Industrie, die Kultur verbrennt. Maxime: Verwertbarkeit und Quote.

Ein anderer Bildausschnitt

Zuhause kichert der Fernseher über die Schau der Klone, die Superstars werden müssen, um wochenlang die Schlagzeilen mit Silikon zu füllen. Und dann noch: korrupte Politiker, eitle Karrieristen, Dummheit, Schadenfreude, Dschungelcamp. Auch davon ist Köln Hauptstadt. Und das wird schwer zu ändern sein, zumindest bis 2010.

Wir müssen den Bildausschnitt ändern. Der wird heute bestimmt durch die unmittelbaren Interessen der Industrie, der Werbewirtschaft und Pöstchenjäger. Sie führen zur Überschätzung des „Glanzes“ und gleichzeitigen Geringschätzung einer über Jahre gewachsenen freien Kulturszene, selbstständig und authentisch. Diese findet in besagtem Bildausschnitt fast nicht statt. Der Kulturchef des Kölner Stadt-Anzeigers beklagt, dass Köln in der Bewertung der kulturellen Attraktivität nur auf dem sechsten Platz landet, und kommt nicht auf den Gedanken, dass sein Blatt auch etwas damit zu tun haben könnte.

Einfallslose Ästhetik

Trotz der journalistischen Ausblendungen und trotz der Journalisten, in deren Köpfen mehr als eine schräge Revue, ein bisschen Karneval oder eine Homestory nicht vorkommen, hat sich die freie Kultur behauptet, ja gestärkt.

Klar ist: Hätten sich die Kulturschaffenden nicht selbst bewegt, wäre hier schon lange der Ofen aus. Ein Beispiel: Ohne die Kölner Theaterkonferenz hätte es 2002 keine Mittelerhöhung gegeben, keine Konzeptionsförderung für 17 Theater, keine Theaternacht, keine übergreifende Bündnisse, keine Vielfalt im Kinder- und Jugendtheater. Es gäbe auch keine Inszenierung von Vinterbergs „Fest“, (mit dem Theaterpreis 2003 ausgezeichnet), weil selbst das Theater am Sachsenring nach dem Willen der Verwaltung abgeschafft wäre.

Alles das hätte keinen Boden mehr. Dieser Boden aber ist die Mindestvoraussetzung für eine Kulturstadt. Sonst gäbe es den Schritt zurück in eine Zeit, in der es in Köln nur eine Handvoll Bühnen gab. Also hat die Politik begonnen, umzudenken. Die Stadt ist in der Pflicht, das kulturelle Leben in seiner Vielfalt zu finanzieren und es nicht immer wieder als „freiwillige Leistung“ zur Verfügung zu stellen.

Was wir brauchen, ist ein „Kölner Modell“ mit einem starken Zentrum städtischer Bühnen und einer Landkarte freier Theater, die Kreuzungen zwischen allen Wegen zulässt.

Sprechen wir zum Schluss noch über die Kunst. Die Zerstörung von Stücken, die Zerstörung von Zusammenhängen in der Kunst entspricht schon lange nicht mehr dem Geist der Zeit oder gar den Bedürfnissen des Publikums. Es ist arm zu denken, ohne Videoeinspielung gäbe es kein Theater mehr. Diese Ästhetik kopiert Werbesplitter, Reiz und Schock, sie ist eben nicht „modern“, sondern einfallslos. Wir müssen uns der Lüge des Scheins, der Lüge der Attraktion des Augenblicks widersetzen. Köln als Medien-Dom wird keine Kulturhauptstadt. Vertrauen wir endlich auf die Stärken der Kunst, der Sprache, der Körperlichkeit. Vertrauen wir auf die Tradition des Spiels, der Verwandlung, der Zeremonie – eine Tradition, die Köln als Stadt schon immer beherrscht hat. Lasst uns auf Seele und Köpfe zielen mit der Kunst. Offenbach, Shakespeare und Molière bräuchten bitte heute noch ihre Chance, gerade in Köln.

Der Autor ist Chef des Theaters am Sachsenring und leitet seit drei Jahren die Kölner Theaterkonferenz. Am 12.2 erschien an dieser Stelle der Beitrag „Köln braucht eine Ausweitung der Kulturzone“ von Sebastian Sedlmayr.