: Verwachsene Europäer
Zum 100. Geburtstag von Claude Lévi-Strauss widmet Arte dem französischen Anthropologen und Ethnologen einen Thementag. Höhepunkt ist Pierre Beuchots Doku „Claude Lévi-Strauss“ (13 Uhr)
VON CORD RIECHELMANN
Bevor Claude Lévi-Strauss morgen 100 Jahre alt wird, widmet Arte dem Ethnologen und Anthropologen heute einen ganzen Thementag. Den Höhepunkt dessen bildet zweifelsfrei die von Pierre Beuchot angefertigte Dokumentation mit dem schlichten Titel „Claude Lévi-Strauss“.
Der Film geht auf ein Gespräch mit Lévi-Strauss im Jahr 1972 im französischen Cote d’Or zurück. Man sieht Lévi-Strauss in einem Korbstuhl auf einer Wiese neben und vor Bäumen sitzen. Er gibt Antworten auf Fragen, die vorher eingeblendet wurden, und zwar in einer durchgehend schlichten und identischen Schrifttype, also ohne die Alexander-Kluge-mäßigen Verzerrungen, Variationen und Hervorhebungen bestimmter Wörter. Dazu werden nur die Titelblätter der Originalausgaben bestimmter Werke Lévi-Strauss’ wie „La pensee sauvage“ („Das wilde Denken“, 1962) oder „Tristes Tropiques“ („Traurige Tropen“, 1955) eingeblendet und neben Fotografien jener Amazonas-Indianerstämme gestellt, die Lévi-Strauss selbst besucht und untersucht hatte. Ansonsten gibt es „nur“ die Erklärungen Lévi-Strauss’ zu sehen. Die aber haben es in sich und sind nichts weniger als eine klare Einführung in den Denkweg Lévi-Strauss’ und damit auch in den Strukturalismus.
Lévi-Strauss, der 1931 die Lehrbefähigung für Philosophie erhalten hatte, war über die Beschäftigung mit Marx, Engels und Freud auf die Ethnologie gestoßen worden, die er zuerst nur als vage Möglichkeit ansah, das enge, aggressive Korsett des in der Renaissance entwickelten abendländischen Humanismus und seines Menschenbildes zu verlassen.
So kann man die Annahme einer Professur in São Paulo 1935 auch als eine im leisen Streit vollzogene Abkehr vom Frankreich seiner Herkunft sehen. In Brasilien unternimmt er mehrere Expeditionen in die bis dahin nicht erschlossenen Gebiete der Amazonas-Indianer. Dabei macht er eine nur scheinbar paradoxe Entdeckung: Je weiter die Indianer von der Zivilisation entfernt leben, desto ärmer und dürftiger bieten sich ihre Kulturen und ihre Lebensbedingungen dar. Sie sind keine unberührten „Wilden“ mehr, sie sind bereits in den 30er-Jahren von der westlichen Zivilisation kontaminiert worden, ihre Kultur ist wesentlich zerstört und sie sind auf die einfachsten Formen sozialen Lebens zurückgeworfen worden. Die Katastrophe ihrer Kulturen war die Entdeckung Amerikas durch die Europäer, und Ethnologen wie er, also Lévi-Strauss, setzen in gewisser Weise diese Vernichtungsarbeit fort, indem sie in die Lebensräume der Indianer eindringen, um sie zu studieren. „Ich hasse alle Reisen und Forschungsreisende“, wird er zu dieser Erkenntnis im ersten Satz der „Traurigen Tropen“ schreiben.
Wobei die traurigen Tropen sein erzählerischstes Werk sind, für das er, wie er im Film sagt, vier Monate von der Wissenschaft „blau gemacht“ hat. Was wohl auch deshalb nötig geworden war, weil zwischen 1935 und 1955 die westlichen Zivilisationen einen Zerstörungsrausch erlebt hatten, der auch die Zerstörungen durch die Entdeckungen der Kolonialisten in den Schatten stellte. In der Folge ging es Lévi-Strauss immer dringlicher um die Frage, worin sich Kulturen unterschieden beziehungsweise glichen und wie sie miteinander in Austausch, in Kommunikation treten könnten, ohne sich dabei zu zerstören. Und das Gemeinsame der menschlichen Gesellschaften entdeckt er in ihren Regeln. Die Vorschriften etwa, wer wen heiraten darf und wer nicht, können streng oder freizügig sein, geregelt werden sie aber in allen Gesellschaften. Darin entdeckt Lévi-Strauss eine Schnittstelle von Natur und Kultur. Es gehört sozusagen zur Natur der Sache der menschlichen Gesellschaften, das sie den Umgang miteinander regeln, dagegen können Menschen nichts tun, wie sie es aber im konkreten Einzelnen tun, das liegt in ihrer Macht. Die handelnden Subjekte werden somit für Lévi-Strauss von den Objektbedingungen abhängig. Man hat den Strukturalisten deshalb vorgeworfen, dass sie den Menschen zerstören und einer Natur der Bedingungen ausliefern würden. Lévi-Strauss antwortet darauf: Das stimme schon, eine absolute Trennung von Mensch und Natur, wie sie der extreme Humanismus vornehme, lehne er ab. Der Mensch ist nicht zuerst ein denkendes, sondern ein lebendiges Wesen; und das heißt auch: Der Mensch kommt nicht als erwachsener Europäer auf die Welt.
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