: Brasiliens neue Sklaven
AUS AÇAILÂNDIA UND ARAGUAÍNA GERHARD DILGER
Dichte Rauchschwaden verdunkeln den Himmel. Zwei Männer mit rußverschmierten Gesichtern schleppen Baumreste in einen igluförmigen Kohlemeiler aus Ziegelsteinen. Mit sechzehn Kubikmetern Holz müssen sie den Meiler stopfen. Nach sechs Tagen ist das Holz zu acht Kubikmetern Holzkohle verschmort.
Raimundo Nonato de Souza und Nielson Chaves ziehen bereits seit mehreren Jahren von einer Köhlerei zur nächsten. Zuvor waren sie Landarbeiter auf einigen der Großfarmen, die hier, im Osten Amazoniens, dominieren. Knapp 100 Euro monatlich bekommen sie für die Knochenarbeit – einen Hungerlohn. Ihr Arbeitgeber verkauft die Holzkohle an eines der fünf Hüttenwerke im benachbarten Açailândia, die damit ihre Hochöfen befeuern – das Roheisen ist für den Export in die USA bestimmt.
Tausende derartiger Köhlereien gibt es in Brasilien und unschätzbare Mengen Arbeiter werden auf diese Weise ausgebeutet. Allein im Bundesstaat Maranhão, in dem Açailândia liegt, fallen der Holzkohleproduktion Jahr für Jahr rund tausend Quadratkilometer Primärwald zum Opfer, und die Transportwege zu den Eisenwerken werden immer länger.
Doch Souza und Chaves arbeiten noch unter vergleichsweise guten Bedingungen. Je weiter man in die abgelegeneren Teile des Landes vordringt, desto weniger wird man Männer finden, die für ihre Arbeit auch tatsächlich entlohnt werden. Fast unmerklich verwischen die Grenzen zwischen der Überausbeutung von Wanderarbeitern und einer neuen Form von Versklavung.
„Ein Sklave“, so definiert der US-amerikanische Soziologe Kevin Bales in seinem Standardwerk „Die neue Sklaverei“ (2001) „ist jemand, der sich mit Gewalt oder durch Androhung von Gewalt in der totalen Kontrolle anderer befindet“ – zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung. Und genau das passiert in Brasilien.
Bereits im November 2001 hatte der Senat für eine Änderung der Verfassung zum Schutz vor Versklavung gestimmt. Doch das Repräsentantenhaus, in dem die Agrarlobby stark vertreten ist, vertagte die Beratung darüber acht Mal. Erst Anfang Februar dieses Jahres konnte der Justizausschuss den Antrag verabschieden, dass künftig Landgüter, auf denen Arbeiter wie Sklaven gehalten werden, sofort enteignet und für die Agrarreform zur Verfügung gestellt werden sollen. Das brasilianische Strafgesetzbuch, nach dem für Sklavenhaltung Gefängnisstrafen von bis zu acht Jahren vorgesehen sind, verschärfte in diesem Zusammenhang seine Definition von Sklaverei. Nach der neuen Fassung werden Menschen „wie Sklaven“ behandelt, wenn man sie „Zwangsarbeit, überlangen Arbeitstagen oder erniedrigender Arbeit unterwirft“ oder „wegen Schulden, die sie gegenüber dem Arbeitgeber oder dessen Statthalter eingegangen sind, ihre Bewegungsfreiheit einschränkt“.
Der Wanderarbeiter Edson dos Santos ist schon lange im Geschäft. Er lässt sich von „Gatos“ – Katzen, so wie man hier die Mittelsmänner nennt – für verschiedene Landarbeiterjobs vermitteln. Doch er verhandelt nur mit Gatos, die er kennt. Gerade ist Santos bei der Wirtin Dona Maria eingekehrt – um sich von zwei Monaten Plackerei zu erholen. Ihm haben die Diskussionen der Regierung bereits genützt: „Seitdem die Großgrundbesitzer wissen, dass sie Probleme mit der Polizei bekommen können, werden wir besser behandelt“, sagt der 28-Jährige.
Doch die Realität der meisten Arbeiter sind anders aus. Die Hinterzimmer von Dona Marias düsterer Spelunke sind ausgebucht. Hängematte reiht sich an Hängematte. 25 Männer im Alter von 17 bis 30 Jahren warten auf ihren Gato, der sie zum Arbeitseinsatz auf große Farmen im Amazonas-Bundesstaat Pará in Brasiliens „Wildem Westen“ bringen wird. Drei Euro pro Tag und Hängematte, Frühstück inbegriffen, berechnet Dona Maria ihren Gästen. Um das zu bezahlen, erhalten sie von dem Gato einen Vorschuss von 45 Euro. Doch später, wenn sie auf den Ländereien schuften, werden die Männer nicht mit Geld bezahlt werden. Erst, so sagt man ihnen, sollen sie ihre Schulden abarbeiten, die Kosten für ihre Reise und ihre neue Unterbringung. Es ist der Beginn einer Schuldknechtschaft, aus der viele kein Entrinnen mehr finden. Wer flieht, bekommt es mit Pistoleiros zu tun.
Bis 1888, als über dreieinhalb Jahrhunderte offizielle Sklaverei offiziell zu Ende gingen, waren Sklaven afrikanischen Ursprungs für die weißen Zuckerbarone oder Minenbesitzer eine beträchtliche Investition und wurden schon deswegen besser behandelt. Heute jedoch sind sie Wegwerfmenschen. „Wenn einer stirbt, findet man 100 neue“, sagt Ruth Vilela, Staatssekretärin im Arbeitsministerium von Brasília. „Zu 99 Prozent sind es ‚unsichtbare‘ Menschen ohne Geburtsregister und Sterbeurkunde. Auf den Farmen wohnen sie in unmenschlichen Verhältnissen, unter Plastikplanen, ohne Hygiene. Das Vieh wird dort besser behandelt.“ Hauptprofiteure der Sklaverei seien „die Großgrundbesitzer, die keinen direkten Kontakt mit den Arbeitern haben“, so Vilela, und „große Unternehmen“. Das berüchtigste Beispiel ist bis heute VW geblieben: Im Süden von Pará betrieb der Autokonzern eine 1.400 Quadratkilometer große Rinderfarm, auf der hochmoderne Technik und Sklavenarbeit jahrelang nebeneinander existierten.
Araguaína, 200 Kilometer südlich von Açailândia und auf halbem Weg zwischen dem bettelarmen Hinterland des Nordostens und dem Amazonas-Regenwald gelegen, ist eine wichtige Drehscheibe des modernen Sklavenhandels. Ein paar Straßenzüge vom Rotlichtviertel entfernt, in dem die Arbeiter Station machen, liegt das Büro der katholischen Landpastoral CPT. Von hier aus koordiniert der französische Dominikaner Xavier Plassat seit 1997 eine landesweite Kampagne gegen die Sklaverei. Über Faltblätter, Plakate und Mund-zu-Mund-Propaganda der engagierten Katholiken haben tausende Arbeiter von ihren Rechten erfahren. Bereits 1995 wurden im Arbeitsministerium mobile Inspektorenteams eingerichtet. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) etwa hat in enger Abstimmung mit der Regierung ein eigenes Projekt gegen die Sklavenarbeit gestartet. Im März 2003 stellte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva einen 75-Punkte-Aktionsplan vor. Das Ziel: Bis 2006 soll es in Brasilien vorbei sein mit der modernen Sklaverei.
„Es ist deutlich vorangegangen“, sagt Xavier Plassat. Allein im letzten Jahr wurden von den InspektorInnen fast 5.000 Sklavenarbeiter befreit – genauso viele wie in den acht Jahren zuvor. Von ihren Arbeitgebern erhielten sie Abfindungen von durchschnittlich 350 Euro.
„Auf zwei Drittel unserer Anzeigen haben die Inspektoren relativ schnell reagiert“, lobt der Dominikaner, 2002 habe das nur in 44 Prozent der Fälle funktioniert. Immer mehr Richter machten von den bereits bestehenden Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch, indem sie die Landbesitzer zur Zahlung von Schmerzensgeld an die Arbeiter verurteilen oder sogar festnehmen lassen – für Brasilien eine fast revolutionäre Neuerung. Allerdings schätzt die CPT die Zahl der Sklaven auf immer noch 25.000, das Arbeitsministerium auf mindestens 40.000. Bales spricht von cirka 200.000.
Für Patricia Audi vom ILO-Büro in Brasília fehlen jene Studien, die es erlauben würden, eine genauere Zahl anzugeben. Ihr gefällt besonders, dass die Regierung nun auch stärker in den Herkunftsregionen der Arbeiter aktiv werden will: „Nun ist der politische Wille da, die Sklavenarbeit tatsächlich auszurotten.“
Vor drei Monaten veröffentlichte die Regierung eine erste schwarze Liste von 52 Großbauern, die keine Kredite von Staatsbanken mehr erhalten. Im April, schätzt Patricia Audi, könnte die Verfassungsänderung, die gezielt gegen Sklavenarbeit und Sklavenhalter vorgehen will, sämtliche fehlenden Instanzen durchlaufen haben und in Kraft treten. Noch wehrt sich die Großgrundbesitzerlobby. Ihr Sprecher Luiz Antonio Nabhan Garcia verweist auf einen anderen Verfassungsartikel, nach dem „produktives“ Land nicht enteignet werden darf: „Das ist eine Art juristischer Schutz.“ Weitaus unangenehmer ist die Gegenwehr der Sklavenmafia für engagierte Menschenrechtler und Staatsfunktionäre: Immer mehr von ihnen erhalten Todesdrohungen. Die Ermordung der Inspektoren in Minas Gerais (siehe Kasten) stellt einen neuen Höhepunkt dieser Einschüchterungskampagne dar.
Nach wie vor lässt auch die Ausstattung der staatlichen Kontrollorgane zu wünschen übrig. Der Personalbestand von Arbeitsministerium, Bundespolizei, Staatsanwaltschaft oder Umweltbehörden müsste deutlich aufgestockt werden, um eine ausreichende Präsenz vor Ort zu gewährleisten. Nicht selten müssen Inspektoren Spesen aus der eigenen Tasche zahlen.
Sechs Teams von Inspektoren und Inspektorinnen gehen gerade dem Verdacht von Sklavenarbeit auf Farmen und in Köhlereien nach. Die für eine effektive Kontrolle erforderlichen Haushaltsmittel, gibt Kevin Bales zu bedenken, wären immer noch „ein Bruchteil von dem Geld, das Brasilien verloren geht, wenn die New York Times eine Reportage über den Einsatz von Sklavenarbeit bei der Herstellung von Exportprodukten veröffentlicht“.
Auch Xavier Plassat und seine Kollegen von der Landpastoral stellen die Sklavenarbeit in einen größeren Zusammenhang. Sie fordern, die Regierung müsse das Problem strukturell angehen: durch die „Umsetzung eines alternativen Entwicklungsmodells für Amazonien“ etwa oder eine umfassende Landreform, um in den Herkunftsregionen der Arbeiter neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.
Damit wäre auch Wanderarbeitern wie Raimundo Nonato de Souza, Nielson Chaves und Edson dos Santos geholfen.
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