piwik no script img

Gefühle wie eine Katastrophe

Die große Geste lebt und ihre Demontage auch: Die Ruhrtriennale beginnt mit zwei Inszenierungen von Patrice Chéreau und Alain Platel, mit heiligen Klassikern und ihrer Einverleibung als Pop

von MORTEN KANSTEINER

Erst wagt Phèdre nur ein Wispern: „J’aime …“ Dann wird daraus ein scharfer Ruf: „J’aime …“ Sie schlägt die Hand vor den Mund, sie fasst sich an die Stirn. Jetzt ist es raus. Phèdre liebt ihren Stiefsohn Hyppolite, mit aller Leidenschaft. Patrice Chéreau lässt Tragödie spielen, und zwar heftig. Der Erfolg der ersten ausgewachsenen Theaterarbeit, die der bekannte Filmregisseur nach acht Jahren Abstinenz von der Bühne in Angriff genommen hat, ist bereits verbrieft: Nach der Pariser Premiere haben die Kritiker Lob verteilt und die Zuschauer Karten gekauft, jeweils reichlich. Jetzt hat „Phèdre“, eine Koproduktion der Ruhrtriennale, die erste Hauptsaison des Festivals eröffnet. Mit ganz großen Theatergesten.

Dominique Blanc ist als Phèdre von vorneherein ein Bild der Verzweiflung, die Augen dunkel gerändert, die Locken strähnig. Später, von ihrem Stiefsohn zurückgewiesen, streckt sie gar die entblößte Brust seinem Schwert entgegen. Pascal Greggory hingegen schreitet und schaut, ganz König. Weit spreizt er die Arme, wenn er den Zorn der Götter gegen Hyppolite heraufbeschwört, den Sohn und vermeintlichen Nebenbuhler. Eric Ruf zeigt Hyppolite mit bebenden Bauchmuskeln, Marina Hands wirft sich als Aricie rückhaltlos an seinen Hals. Entfesselte Leidenschaften also. Nicht in jedem Moment mag man an ihnen Anteil nehmen. Wie soll man Gesten trauen, die einem Andachtsbild des 19. Jahrhunderts entlehnt sein könnten? Trotzdem funktioniert Chéreaus Tragödie wie das Echo einer fernen Katastrophe.

Die Inszenierung zieht den Zuschauer behutsam ins Geschehen, eine beinahe unablässige Bewegung, die sich langsam in tragische Höhen schwingt. Gleichzeitig staut sich in den Körpern die Spannung für die großen Ausbrüche. Marina Hands etwa ist ständig auf der Flucht: Die Füße tänzeln, Schultern und Kopf federn vor und zurück. Unausweichlich muss sie schließlich vorschnellen und ihre Wange an den Haarstoppeln des Eric Ruf reiben. Man muss ihr das glauben, sie konnte nicht anders. Letzte Bedenken werden von der Sinnlichkeit der Artikulation betäubt.

Vor der Premiere in der Bochumer Jahrhunderthalle hat Patrice Chéreau in Interviews nonchalant am Theater gezweifelt: Vielleicht sei es nicht mehr die richtige Form für die Gegenwart. Seine „Phèdre“ hingegen ist die reine Affirmation: Ja, man kann die heiligen Klassiker des Sprechtheaters spielen. Ohne Distanz, ohne Ironie.

Am nächsten Tag das Gegenprogramm: In der neuen Produktion von Alain Platel, Choreograf und Regisseur, wird Wolfgang Amadeus Mozart – von dem sich auch der Titel „Wolf“ ableitet – von Popsongs gerahmt und der Kontext der Gegenwart einverleibt. Einerseits ist „Wolf“ Tanztheater, andererseits spielt auch der Zirkus mit, wenn Juliana Neves an langen Tüchern unter der Decke schwebt. Die Bühne erzeugt derweil den Eindruck, man befinde sich in der Volksbühne Berlin. Bert Neumann hat einen zweistöckigen Kasten gebaut, aus Sperrholz, Drahtgittern und Metallrollos, schäbig, aber irgendwie sorglos. Vielleicht die Ladenpassage eines gebeutelten Badeortes.

Bevölkert wird sie von einem Dutzend Gestalten, die ihrerseits mit Mischen beschäftigt sind. Die Tänzerin Raphaelle Delaunay puzzelt im Szenentakt Identitäten zusammen und landet dabei mit Vorliebe zwischen den Geschlechtern. Schon ihre schmalen Hüften und kurz geschorenen Haare tragen mit dem Rot ihrer Lippen einen Konflikt aus, den selbst ein weißes Kleid nicht gleich auflöst. Genauso instabil sind die Verhältnisse innerhalb der Gruppe. Einer der Akteure wird gleich zu Beginn gehetzt und verprügelt. Von da ab lagert er am Rand, umgeben von einem Rudel Hunde. Später macht sich Kurt Vanmaeckelberghe unbeliebt, als er, einer von zwei gehörlosen Darstellern, mit kleinen scharfen Geräuschen eine Arie torpediert.

Wenn es doch Momente der Gemeinsamkeit gibt, beunruhigen auch die. Eine synchron und frontal zum Publikum gestampfte Choreografie ist zugleich gewaltsam; das gemeinsame Absingen der „Internationalen“ schlägt schnell in Grölen um. Am Ende sind alle nur im Tod vereint: Vom selben Schuss getroffen, taumeln sie in Zeitlupe von der Bühne.

Weiter als mit der großen Tragödie von Chéreau, die alles Fühlen in eine Richtung lenkt, und der Patchwork-Kunst von Platel, in der die heterogene Herkunft jede einzelne Figur zerlegt, lässt sich der Rahmen des Theatralischen heute wohl kaum öffnen. Beides sind große Spektakel, beide von großer Sinnlichkeit und geeignet, ein Festival wie die Ruhrtriennale anzuschieben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen