MATTHIAS URBACH über DER PERFEKTE KAUF: Der Tag, als unser Lieblings-Schokoladeneis starb
Die Firma Nestlé hat einen neuen Aggregatzustand für Eis erfunden: „Cremiger denn je“. Damit ist das Geheimnis des Geschmacks entzaubert
Unser Lieblingseis ist tot. Von Marketingfuzzis für ein wenig Verkaufsförderung um die Ecke gebracht. Auf dem Deckel droht rot unterlegt: „Neu: Cremiger denn je!“ Ich zeige meiner Frau die Packung. „Es war doch alles gut, wie es war“, seufzt sie. Verunsichert lege ich das Mövenpick „Chocolat Chips“ in den Einkaufswagen – unseren Gäste servieren wir heute Abend Eis mit Früchten und Portwein. „Wird schon schmecken“, sage ich.
Abends, der dritte Gang ist beendet: Ich steche kräftig ins Eis, um es wie gewohnt aus dem Becher zu meißeln. Doch mein Löffel gleitet durch die Masse wie durch Margarine. Schlimmer noch: Kaum lege ich die Blaubeeren drauf, sinkt die Halbkugel in sich zusammen. Der Schuss Portwein unterspült den Schokohügel wie die Flut eine Sandburg. Als ich das Dessert auftische, melden die Schalen bereits Hochwasser. Schweigend löffeln unsere Gäste die Suppe aus.
Im Eisbecher bleibt ein schleimiger Rest zurück, der noch bei Zimmertemperatur zäh an der Schale haftet. Das Eis will weder ordentlich fest sein, noch will es in Würde schmelzen. Nestlé hat einen neuen Aggregatzustand erfunden: Cremiger denn je.
Ich tue etwas, was den Spaß an jeder Süßigkeit verdirbt: Ich lese die Zutatenliste. „Entrahmte Milch, Butterreinfett und Molkeerzeugnis“. Die üblichen Industrievorprodukte. Mono- und Diglyceride, Johannisbrotkernmehl und Guarkernmehl halten die Mischung zusammen. Was mich überrascht: Die 1-Liter-Packung wiegt bloß 590 Gramm.
Haben die da getrickst?
Hiltrud Rohenkohl vom Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik beruhigt mich. Das Geheimnis des Eisgeschmacks beruhe eben darauf, „möglichst feine gleichmäßige Luftblasenstrukturen“ zu schaffen. Deshalb bestehe Eis zur Hälfte aus Luft.
Woher kommt dann die labbrige Konsistenz? „Ich denke, dass die den Anteil gefrorenen Wassers gesenkt haben“, sagt Rohenkohl. Man müsse nur etwas andere Zuckersorten wählen, das senke den Gefrierpunkt der Masse und ein kleinerer Anteil des Wassers wird gefroren.
Sie haben mein Eis zerzuckert! Genervt marschiere ich zum Spar-Markt und fische die vier Schoko-Eisbecher der Konkurrenz aus der Truhe.
Blindtest abends mit meiner Liebsten. Fünf weiße Schalen mit dunkelbraunem Eis reihen sich geheimnisvoll vor uns auf. Meine Frau strahlt, aber nicht lange: „Das schmeckt alles so ähnlich.“ Mehr süß und fett als „double choc“. Ich hole Wasser zum Spülen der Geschmacksknospen.
Wir sind aufs Äußerste konzentriert. Doch keine Sorte überzeugt. Wir sortieren aus: Das muffig-wässrige „Die Sparsamen – Speiseeis“ mit Pflanzenfett, die beiden zu weichen Nestlé-Sorten (Mövenpick und Schöller Manhatten). Bleiben zwei: Marktführer Langnese, allerdings mit granulatscharfem Schokoraspel. Und Landliebe – es hat die beste Konsistenz.
Tags drauf gehe ich noch mal einkaufen. Ich besorge „Mucci“, die Preis-Leistungs-Bestie aus dem Hause Aldi: „Premiumeiscreme“ für 1,39 Euro den Liter. Das Tiefkühlregal unserer Lidl-Filiale verweigerte die Mithilfe. Dafür erstehe ich bei Karstadt Häagen-Dazs „Choc Choc Chip“.
Der halbe Liter kostet 4,59 Euro – und frage mich, ob im Preis ein Anteil am Nestlé-Mutterkonzern enthalten ist. Als einziges enthält Häagen-Dazs tadellose Zutaten: Sahne, Magermilch, Zucker, Schokosplitter, Kakao und Eigelb. Keine weiteren Emulgatoren oder Stabilisatoren. Der Liter wiegt sättigende 860 Gramm.
Wir holen unsere beiden Nachbarinnen und meinen Sohn ins Kompetenzteam. Der Dreijährige kriegt nacheinander alle Sorten aufgetischt. „Schmeckt auch gut“, lautet sein immer gleiches Testurteil. „Mehr.“ Auch die Nachbarinnen rammen ihre Löffel begeistert in die Schüsseln. Doch die Euphorie legt sich rasch: Im direkten Vergleich kommt ihnen kein Eis mehr besonders vor.
Dafür fällt eines böse auf. „Chemischer Nachgeschmack“, diagnostiziert Karola: Mucci ist raus. Langneses Schokogranulat nervt alle.
Bleiben zwei: Häagen-Dazs-Schokobrocken erinnern an billige Kuvertüre, dafür schmeckt das Eis „frisch, ohne wässrig zu sein“ und „ordentlich nach Schokolade“. Landliebe ist „lieblicher“, weniger entschieden. Julia attestiert „Genuss ohne Reue“, weil nicht so mächtig wie Schwergewicht Häagen-Dazs.
Immerhin: Beide halten Beeren und Portwein stand. Trotzdem sind wir unbefriedigt. Wir hatten fest an den Zauber der Eisbecher geglaubt. Julia lädt uns zum Mai in ihre Lieblingseisdiele ein. Karola will nächstes Mal lieber Pudding testen.
Fazit: War unser Lieblingseis jemals gut? Manchen Dingen sollte man besser nicht auf den Grund gehen.
Fotohinweis: MATTHIAS URBACH DER PERFEKTE KAUF Fragen zu Lieblingseis? kolumne@taz.de. Dienstag: Bernhard Pötter über KINDER
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