Der ANC verliert seinen Denker

Im Alter von 90 Jahren ist in Südafrika der frühere ANC-Generalsekretär Walter Sisulu gestorben. Nelson Mandela trauert: „Ein Teil von mir ist fortgegangen“

JOHANNESBURG taz ■ Seinen 91. Geburtstag hat er nicht mehr erlebt. Nur zwei Wochen vorher starb Walter Sisulu am Montag in seinem Haus in Johannesburg. Mit ihm verliert Südafrika einen Mann von außerordentlicher Integrität. Voller Bescheidenheit und Wärme – so wird er den meisten Südafrikanern in Erinnerung bleiben.

Sisulu war der strategische Denker des ANC. Im Ruhm der Öffentlichkeit sonnte sich der weißhaarige Mann mit der dicken schwarzen Hornbrille nie. Während andere Führer des „Afrikanischen Nationalkongresses“ international mit Preisen für ihren Friedenskampf ausgezeichnet wurden, erhielt Sisulus Arbeit weniger öffentliche Anerkennung. „Aber seine Menschlichkeit und Demut ist herausragend“, beschrieb ihn sein langjähriger Weggefährte Nelson Mandela zum letzten Geburtstag seines politischen Mentors. 62 Jahre ihres Lebens sind Sisulu und Mandela, die beiden Ikonen im Kampf gegen die Unterdrückung in ihrem Land, gemeinsam gegangen.

Es war Walter Sisulu, der Nelson Mandela in die Politik des ANC einbrachte. Sisulu, geboren 1912 als Sohn eines schwarzen Hausmädchens und eines weißen Staatsangestellten in der Transkei, wuchs ohne Vater auf und zog mit 15 Jahren in die Metropole, um Geld zu verdienen. Er arbeitete unter schlimmsten Bedingungen in den Minen, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und studierte nach Feierabend. Im Laufe seiner Karriere setzte sich Sisulu für die Rechte der Arbeitnehmer ein und organisierte Streiks. 1940 trat er dem ANC bei und zählte zu der radikalen Gruppe, die 1944 die ANC-Jugendliga gründete. Fünf Jahre später war er ANC-Generalsekretär.

Häufig verhaftet und in die Verbannung geschickt, operierte Sisulu maßgebend für den bewaffneten Flügel des ANC später aus dem Untergrund. Als einziger auftretender Zeuge verteidigte er 1963 mit Scharfsinn und Brillanz die Ziele der Freiheitsbewegung im Verhör des Riviona-Prozesses. Die als Verräter Angeklagten entkamen der Todesstrafe, und Sisulu wurde zusammen mit Mandela und anderen zu lebenslanger Haft auf Robben Island verurteilt. Als er 1989 freigelassen wurde, war Sisulu 77 Jahre alt. Nach der Wiederzulassung des ANC 1990 wurde er 1991 zum stellvertretenden Präsidenten der Partei gewählt. Sein Freund Mandela war da gerade ein Jahr aus der Haft entlassen; er regierte die Partei als Präsident, drei Jahre später das Land.

Das Ideal der beiden Freiheitskämpfer, in Südafrika eine gemischtrassige Gesellschaft mitzuformen, ist in Erfüllung gegangen. Und Sisulus Weitsicht, seine Standhaftigkeit und Loyalität haben jüngeren ANC-Mitgliedern immer wieder Mut gemacht. „Ein Teil von mir ist fortgegangen“, sagte Nelson Mandela, in tiefer Trauer. „Ich wünschte, ich wäre ihm zuvorgekommen, sodass ich ihn hätte in Empfang nehmen können.“

Mit einem Staatsbegräbnis will der ANC seinem Helden die letzte Ehre erweisen. „Tata Sisulu“, Vater Sisulu, wurde Walter Sisulu von vielen Menschen in Südafrika respektvoll genannt. Er erlag einer langen Krankheit in den Armen seiner Frau Albertina, die in Südafrika als „Mama Africa“ verehrt wird. Sie war seit ihrer Eheschließung 1944 nicht nur seine Lebensgefährtin gewesen, sondern die bedeutendste Stütze in den schweren Jahren, in denen sie als verfolgte Aktivistin für Demokratie in ihrem Land kämpfte. MARTINA SCHWIKOWSKI