: „Europa denken. Ein Wunder denken“
Der bosnische Schriftsteller und Dramaturg Dzevad Karahasan ist eine Herausforderung: Er verständigt sich, indem er sich abgrenzt. Wenn Karahasan erzählt, will er vor allem eines: den Widerspruch. Gerade deshalb wurde ihm gestern der „Buchpreis für Europäische Verständigung“ verliehen
VON NADJA KLINGER
Das Schwierige am Verständigen ist, dass man sich darauf verstehen muss. Man braucht zunächst eine Sprache. Aber was mit der Sprache anstellen? Sie nehmen, wie sie kommt? In der Kürze der Zeit genügend Sätze sagen? Oder lieber ein paar Augenblicke vergehen lassen und nach passenden Formulierungen suchen?
Und wann passen die Formulierungen? Wenn sie der Wahrheit nahe kommen. Und wo findet man die Wahrheit?
Ehe Dzevad Karahasan zu sprechen anhebt, vergeht Zeit, in der er die Worte aus sich herausholt. Sie kommen aus der Tiefe, eines nach dem anderen, und hängen sich in sein Gesicht. Sie ziehen an seinen Mundwinkeln, so dass der dichte Schnauzbart zu schaukeln beginnt. Die Worte legen seine Stirn in Falten. Sie leuchten in seinen Augen. Man kann sehen, wie Karahasan vorgehen wird, ehe er tatsächlich zu sprechen begonnen hat.
Er wird eine Kulisse errichten und Lichtverhältnisse schaffen. Er wird eine Geschichte erzählen. Sie wird an einem Ort spielen, an dem ein Lüftchen weht oder ein starker Wind. Man kann hören, wie das Leben an diesem Ort klingt, und man kann den Staub riechen. Eine oder mehrere Figuren treten auf. Etwas passiert. Dann treten sie wieder ab. Während er erzählt, wird Karahasan sich krümmen und strecken. Er wird in die Knie gehen, auf dem Sofa nach vorn rutschen, um sich alsbald wieder ins Polster zu werfen. Er wird gestikulieren. Er wird sich aufbäumen, wenn seine Figuren sich anschicken zu gehen. Dann wird er in sich zusammenfallen. Nach dem letzten Satz setzt Karahasan mit seinem ganzen Körper einen Punkt.
Was stellt der Meister mit der Sprache an, um sich zu verständigen? Er zieht den Anorak an, setzt das Hütchen auf und geht spazieren. Den Rücken leicht gekrümmt, den Kopf etwas zwischen die Schultern gezogen, sucht er nach Details. Nach Geräuschen, der Temperatur, einem Geruch. „Woraus sich keine Geschichte machen lässt, das ist nicht wirklich“, sagt er.
Gestern hat der bosnische Schriftsteller und Dramaturg Dzevad Karahasan, der jetzt in Graz in Österreich lebt, im Alten Rathaus von Leipzig den „Buchpreis für Europäische Verständigung“ bekommen. Poesie und Philosophie, Tradition und Moderne, Ost und West seien in seinem literarischen Werk kunstvoll miteinander verwoben, heißt es in der Begründung der Jury. Die Pressekonferenz zwei Tage vor der Preisverleihung ist nicht gerade gerammelt voll. Das Österreichische Fernsehen hat als einziges ein Mikrofon aufgestellt. Einmal, als Karahasan gerade spricht, klingelt ein Handy. Die Dame, der es gehört, geht auch noch ran. Telefonierend trollt sie sich aus dem Raum. Sie ist vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der den Preis vergibt. Später wird sie den Preisträger über die Buchmesse schleusen, in die Messehallen, in denen er reden oder lesen soll.
Er hat nie Bestseller geschrieben. Bestseller werden Bücher, in denen die Leser sich irgendwie selbst entdecken. Doch an den Orten, von wo Dzevad Karahasan berichtet, können sich westeuropäische Leser kaum wiederfinden. In Sarajevo beispielsweise. Denn Sarajevo ist ihnen fremd.
Nicht dass die Stadt weit weg wäre, im Gegenteil. Jedoch ist sie seit Anfang der 90er-Jahre von Begriffen wie Serben, Kroaten, Muslime, Christen, Juden, Bosniaken besetzt. Das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen, das hier seit jeher funktioniert hatte, wurde infrage gestellt. Die Wirklichkeit wurde auf eine Idee von der Wirklichkeit reduziert. Es war der Wille zum Beherrschen, der diese Idee geboren hat, und logischerweise hat sie zum Krieg geführt. „Das Wort ist sozusagen die Einführung zur Tat“, sagt Karahasan. Westeuropa hat bei Kriegsende im Abkommen von Dayton die Nationalstaaten auf dem Balkan anerkannt und damit die Ergebnisse des Krieges bestätigt. „Das war zynisch“, sagt Dzevad Karahasan.
In seiner Heimatstadt Sarajevo hatte er einen Freund. Der war Professor an der Universität, sie kannten sich schon lange. Als der Krieg ausbrach, wurde dem muslimischen Schriftsteller klar, dass sein Freund Katholik war. Nicht dass er das nicht gewusst hatte. Aber plötzlich bekam die Tatsache eine andere Bedeutung. „Im Vatikan ist alles katholisch: die Steine, das Gras, die Luft. Da verinnerlicht man das Katholische, so wie man eine Niere verinnerlicht, die man ja nicht spürt, weil sie nicht wehtut, wenn sie arbeitet“, sagt Karahasan. „In Sarajevo jedoch entscheiden wir uns jeden Tag aus unserer persönlichen Freiheit heraus, unserem Glauben nachzugehen, ganz einfach, weil um uns herum alle Menschen an etwas anderes glauben.“
Er spricht noch immer in der Gegenwartsform von dieser Stadt. Ein Bosnien ohne Serben oder Kroaten, Juden oder Bosniaken könne er nicht akzeptieren, sagt er. Das Recht auf Heimat schließe keinen aus, im Gegenteil.
1993 ist er ins moderne Europa geflohen, war zunächst in Deutschland, ging dann nach Österreich. „Sobald man nicht mehr in der Lage ist, den besten Freund einfach nur als Menschen zu sehen, hat man seine Unschuld verloren“, sagt er. Westeuropa ist für Karahasan viel weniger modern, als es Sarajewo bis zum Ausbruch des Balkankrieges war. Europa ist nur, aus seiner Perspektive gesehen, größer geworden. Leider. „Jetzt haben wir alle unsere Unschuld verloren.“
Nach wie vor ist Karahasans Heimat dort, wo sich verschiedene Lebensweisen berühren und durchdringen. „Manchmal fruchtbar, manchmal furchtbar“, sagt er, „einmal freundlich, das andere Mal feindlich, aber immer produktiv.“ Nach wie vor lebt er in seiner Heimat, auch wenn Sarajevo nicht mehr ist, wie es war, und er nicht mehr dort lebt. Zum einen, weil er von dort erzählt. Weil er Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Essays schreibt, die davon zeugen, dass Europa sich aus einem Teil der islamischen Welt konzipiert. Auch sein jüngstes Buch, das „Buch der Gärten“, liest sich nicht einfach so weg. Es lehnt sich an Scheherazades Geschichten aus Tausendundeiner Nacht an und spielt an den Grenzen zwischen Islam und Christentum. Grenzen aber werden allgemein immer im Sinne von Abgrenzung gedeutet. Man hält sich an ihnen nicht lange auf. Der Leser hat hier keine Erfahrungen.
„Dass die Grenze zu einem Vorteil werden kann, wenn man sie als Punkt der Begegnung und Vollendung betrachtet“, ist das wesentliche Stück Sarajevo, das Karahasan, seit er die Stadt verlassen hat, mit sich herumträgt. Er ist ein Mensch, der auch um sich selbst eine Grenze zieht. „Ich bin ich, weil du du bist“, sagt er. Er war viele Jahre Stadtschreiber von Graz, jedoch hat ihn die Stadt kaum gesehen. Er hat sich in seine Wohnung auf dem Grazer Schlossberg zurückgezogen und geschrieben. Er hat im Rathaus Diskussionsveranstaltungen moderiert. Er hat zusammen mit Autoren aus ganz Europa für das Kulturhauptstadtjahr das literarische Projekt „Poetik der Grenze“ realisiert. Karahasan ist nicht offen. Um mit ihm zu sprechen, muss man einem seiner öffentlichen Auftritte beiwohnen oder ganz nah an die Grenze treten, hinter der er sich aufhält. Und dann muss man sich an dieser Grenze behaupten.
Karahasan erzählt, aber dann will er den Widerspruch. Die Spannung. „Sehr oft bin ich mir nicht sicher, was ich von etwas halte. Ich brauche eine andere Meinung, um meine eigene zu artikulieren“, sagt er. „Spannung allein ist immer sehr fruchtbar.“
Karahasan ist eine Herausforderung. Er pflegt eine den meisten Menschen ungewohnte Art der Verständigung, indem er sich abgrenzt. „Europa denken. Ein Wunder denken“, sagt er. Das Wunder ist nicht, dass die Europäer reisen, ohne die Pässe vorzuzeigen oder dass sie alle mit demselben Geld bezahlen. Das Wunder ist das dichte Netz der Grenzen. Nicht jener Linien, an denen aus einer kulturellen eine Staatsgrenze wurde. Nicht jener Grenzübergänge, die in der Europäischen Union jetzt für jeden offen sind. Karahasan bewundert an Europa etwas anderes als die meisten Menschen.
Er bewundert den großen Raum nur deshalb, weil er möglicherweise wie Sarajevo sein kann: Ein Raum der Spannungen, in dem die Menschen ihre Grenzen achten und darum ringen, sich über sie hinweg zu verständigen. Ein Raum, in dem sie akzeptieren, dass niemand die absolute Wahrheit auf seiner Seite hat. „Tausendundeine Nacht lang erzählt Scheherazade“, sagt er, „und rettet sich damit das Leben.“
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