uli hannemann, liebling der massen: Pimmelland, ein Wintermärchen
Es schneit. Es schneititeit. Der erste Schnee fällt in fetten Flocken flauschig vom Fimmel. Oder soll man sagen Schnie? Nein, soll man nicht. Es heißt ja schließlich auch nicht Fimmel. Sondern Pimmel. Die Menschen tollen missmutig durch das Gestöber. Der Schabernack hält sich in Grenzen. Doch, ei der Daus, was ist das? Nichts.
Bald ist Weihnachten. Betrunken der Vater. Die Mutter weint. Unter dem Baum zerbrochenes Geschirr. In den Zweigen hängen Reste von Kartoffelsalat. Was ist passiert? Wenn wir doch nur noch ein einziges Mal bloß ein ganz kurzes Stück in die Vergangenheit zurückgehen könnten oder aber unser detektivisches Gespür gewieft benutzten oder einfach mal ganz schlicht eins und eins zusammenzählten, dann wüssten wir es. Doch wir sagen es nicht. Es tut zu weh.
Der Vater brüllt wie ein angeschossener Bär. Die Nasenhaare sind in alle Richtungen gespreizt. Er stürmt in den Gang. Dort hängt die warme Jacke am Haken. Da er so betrunken ist, greift er jedoch nach der kalten Hose. Oh weh, Vater, das geht nicht gut! Wir ahnen schon, was in Kürze jetzt geschieht.
Der Vater stolpert in die dunkle Nacht hinaus. Er brüllt noch immer. Vom Pimmel schwebt leise der Schnie herab. Es ist kalt. Der Vater möchte ein Prominentenlokal aufsuchen. Doch er findet es nicht. Stattdessen läuft er blindlings schnurstracks in den Wald hinein, der Verderben heißt. Dies ist genau das, was wir geahnt haben zuvor. Weil der Vater nämlich stockvoll ist, verirrt er sich in dem Wald komplett, und weil es finster ist und er sich damals im Gang von der Wohnung die Hose über den Kopf gezogen hat aus Versehen, sieht er rein gar nichts und knattert stockvoll gegen einen Baum, und weil das Holz hart ist, fällt der Vater bewusstlos um, und weil es kalt ist, erfriert er nun, woraufhin er tot ist, und rasch rundum vom Schnie bedeckt.
Ein sehr langer Satz, zugegebenermaßen, doch das musste sein: Er ist der Bedeutung des Augenblicks angemessen. Immerhin hat es einen Toten gegeben.
Wagen wir an dieser Stelle eine Zäsur. Zurück in der Wohnung der Familie. Die Nerven, die vorher zum Zerreißen angespannt waren, haben sich geglättet. Der Likör hilft. Vor allem aber, dass der Vater endlich weg ist, von dessen Schicksal man im Moment nichts Konkretes weiß. Wäre aber auch sowieso egal. Die Mutter trocknet die Tränen mit einem großen Lappen. Sie zieht den Kartoffelsalat aus dem Weihnachtsbaum. Die Kinder helfen. Rasch ist es gelungen. Der Salat wird weggeworfen, denn er ist nicht mehr gut. Doch zum Glück gibt es noch Würstchen. Die schmecken fein. Bald sind alle wieder froh.
Nun gibt es noch eine weit größere Zäsur als vorher. Das geht nicht anders. Ich kann nicht die gesamte Zeit eins zu eins nacherzählen, das wäre zu langweilig. Also überspringen wir nun in unseren Gedanken mehrere Wochen und Monate. Es hat aufgehört zu schneien. Der Schnie taut. Die Vögel sind mit dem Zug zurückgekommen. Sie singen schön im Wald. Lalalalala. Die Kinder suchen zwischen den Bäumen die Ostereier, die die Mutter fromm versteckt hat. Als sie den Vater finden, gibt es ein großes Hallo, das sich sauber gewaschen hat. Die meisten erinnern sich nämlich noch an ihn.
ULI HANNEMANN
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