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Hölle mit Ausgang

Andre Agassi gewinnt gegen Mario Ancic in fünfSätzen, Jewgeni Kafelnikow gegen Flavio Saretta nicht

PARIS taz ■ Aus wie vielen Gedanken besteht so ein Tennisspiel? Aus wie vielen Momenten der eisblauen Hilflosigkeit und des flammenden Willens? Wie oft dieser eine Satz, stundenlang immer wieder: Ich muss, ich will, ich kann? Und wie weit ist der Weg in der lockenden Hölle?

Andre Agassi hielt sich am Netz fest und schnaufte tief durch, als die Höllentour in fünf Sätzen mal wieder beendet war. Gerade noch rechtzeitig hatte er den rettenden Ausgang gefunden am Ende eines aufreibenden, stürmischen Spiels gegen den jungen Kroaten Mario Ancic (5:7, 1:6, 6:4, 6:2, 7:5). Es sind emotionale Typen wie Ancic, der seinem großen Freund Goran Ivanisevic in vielem so ähnlich ist, die geboren sind für solche Spiele. Und es sind Typen wie Agassi, die darauf eine Antwort finden; viele seiner Art gibt es nicht. Zum fünften Mal in seiner Karriere hat er ein Spiel nach einem 0:2-Rückstand gewonnen, zum dritten Mal in Folge in Paris nach dem Finale 99 gegen Andrej Medwedew und dem Spiel der vierten Runde vor einem Jahr gegen den Franzosen Paul-Henri Mathieu.

„Bevor ich’s begriffen hatte, war ich in einem tiefen Loch“, erklärte Agassi hinterher, „aber genau darum geht es und darin besteht der Reiz: du musst einen Weg finden, wie du da wieder rauskommst.“ Mag der Körper auch leiden in einer Partie, die bei sommerlichen Temperaturen mehr als drei Stunden dauert, für den Geist ist ein Sieg nach fünf harten Sätzen allemal mehr wert als ein schneller, problemloser Erfolg. Agassi sagt: „Es fühlt sich an, als hättest du ein neues Leben.“

Aber wenn der Sieg doppelt zählt, dann hat auch die Niederlage andere Dimensionen. Das erlebte Ancic, der mehr als eine Stunde lang gespielt hatte wie vielleicht noch nie und der sogar kurz vor dem Ende noch mal Hoffnung schöpfen konnte, weil sich Agassi ein paar Doppelfehler leistete und vier Matchbälle vergab. Doch der Kroate ist erst 19, da nimmt man zumindest noch die Befriedigung mit, den großen Agassi an den Rand der Niederlage getrieben zu haben.

Aber wer fast 30 ist wie Jewgeni Kafelnikow, der dieses Turnier schon einmal gewonnen hat (1996) und nicht weiß, ob es noch einen nächsten Versuch in Paris geben wird, der trägt daran schwer. Kafelnikow versuchte fast vier Stunden lang alles gegen den Brasilianer Flavio Saretta und kämpfte mit einer Leidenschaft, die in seinen besten Zeiten selten zu sehen war. Doch es nützte nichts, weil der Brasilianer am Ende ein klein wenig stärker war, und noch eine Stunde nach der Niederlage (4:6, 6:3, 0:6, 7:6, 4:6) wirkte er gleichermaßen erschöpft wie erschüttert. Schon im vergangenen Jahr ist er kurz davor gewesen, seine Karriere zu beenden, doch nach einer Rundum-Behandlung fühlte er sich wieder fit und gönnte sich ein weiteres Jahr. Er tat es in der Hoffnung, in besserer gesundheitlicher Verfassung weiter Titel gewinnen zu können, doch diese Hoffnung schwindet allmählich. „Erste, zweite Runde zu verlieren, das habe ich in den letzten zwölf Jahren nicht getan; das bin nicht ich“, sagt Kafelnikow. „Und wenn das in der zweiten Hälfte des Jahres nicht besser wird, dann höre ich wirklich auf.“

Nicht leicht, als Verlierer nach fünf Sätzen aufzustehen und was Positives mitzunehmen vom gefährlichen schönen Weg durch die Hölle. Für die Sieger geht es weiter, aber erst mit Verzögerung erkennt man, wie viel Kraft der Weg gekostet hat. Andre Agassi wird in Runde drei heute gegen den Belgier Xavier Malisse spielen, der ebenfalls fünf Sätze und fast vier Stunden aus dem Spiel gegen Stefan Koubek aus Österreich in den Knochen hat. Nach dem Matchball lag Malisse eine Weile platt am Boden und hob nur die Hände zum Zeichen des Sieges. Bloß keine überflüssige Anstrengung mehr. „Jeder hat nur einen Tank und versucht ein paar Tropfen für die wichtigen Momente zu sparen“, sagt Agassi. „Aber du weißt nie, wann die wichtigen Momente kommen.“ Jederzeit. Wie immer im Leben.

DORIS HENKEL

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