: Als die Stadt aufs Land kam
aus Nookat ANTJE BAUER
Zum Frühstück wird eine Plastikmatte auf dem Fußboden ausgerollt. Darauf stellen die Mädchen der Familie Schälchen mit Butter, dicker Sahne, Walnüssen, verschrumpelten, getrockneten Aprikosen, Honig und Jogurt. Daneben legen sie dicke, braune Brotfladen. Ein kirgisisches Bauernfrühstück. Außerdem gibt es eine dünne Suppe, in der Stücke von gekochtem Pferdefett mit Schwarte schwimmen. Tierfett – das essen die Kirgisen am liebsten. Die Familie langt gut zu. Es ist kalt draußen, dagegen muss angegessen werden.
Die meisten Dinge, die es zum Frühstück gibt, baut Abdurrahman selbst an. Früher war der hagere Endvierziger mal Polizist. Dann wurde er Bauer und pflanzte eine Weile lang alles Mögliche an: Weizen und Aprikosen, Kartoffeln und Zwiebeln. Das erwies sich als unrentabel. Danach versuchte er es mit der Imkerei. Zurzeit konzentriert er sich auf Äpfel. Die Aprikosenbäume im Garten hinter dem Haus hat er abgehackt und an ihrer Stelle Apfelbäume gepflanzt. Nach der Ernte lagert er die Äpfel in einem Kühlhäuschen im Hof, und im Winter, wenn die Preise steigen, verkauft er sie. Sechs Kinder hat er, drei Söhne und drei Töchter. Zwei Söhne studieren noch, und eine Tochter geht zur Schule. Das kostet Geld.
Nach dem Frühstück holt Abdurrahman sein Pferd aus dem Verschlag, sattelt es und reitet aufs Feld. Langsam verliert sich der Hufschlag in der Ferne.
Bald nach ihrem Vater tritt Begumay aus dem Haus und putzt sich auf dem Hof die Zähne. Das Wasser schöpft sie aus einem eiskalter Bach, der durch das Grundstück fließt. Wasserleitungen gibt es hier nicht. Die „Banja“, ein kleines russisches Badehaus, wird einmal die Woche angeheizt, dann wäscht sich die ganze Familie. Die Toilette ist ein Plumpsklo, auf dem die überflüssig gewordenen Marx-Engels-Werke einer letzten Bestimmung zugeführt werden.
Begumay zieht sich die Zipfelmütze auf und geht in die Schule. Die 14-Jährige ist die Jüngste in der Familie und die Einzige, die noch bei den Eltern wohnt. Wenn sie nach der Schule heimkommt, näht sie bunte Kleidchen und Bettdecken für ihre Puppen und langweilt sich, weil keine anderen Kinder da sind.
Das Zentrum der Familie ist Raushan. Gestern Nacht ist sie erst nach Hause gekommen, als alle im Bett lagen. Sie sei auf einer Hochzeit gewesen, sagt sie. Deswegen fährt sie heute ein bisschen später zur Arbeit. Raushan hat einen wichtigen Posten in der Bezirksverwaltung. Sie hat studiert und war jahrelang Lehrerin an einer hiesigen Schule. Doch das befriedigte ihren Tatendrang nicht. Während ihr Mann sich auf den Feldern abrackerte, gründete sie eine NGO zur Förderung des Schulunterrichts. Sie erreichte, dass hier, im vernachlässigten Süden Kirgistans, eine Schule für besonders begabte Schüler gebaut wurde, mit besonders guten Lehrern und besonders guter Ausstattung. „Die guten Schulen sind immer in der Hauptstadt“, sagt sie, „und wenn man in der Provinz wohnt, hat man schlechte Zukunftsperspektiven. Das wollte ich ändern.“ Inzwischen bewerben sich Kinder aus ganz Kirgistan um einen Platz in dieser Schule. Raushan ist durch ihre Aktivitäten auch ins Ausland gekommen. Das Familienalbum ist voll mit Bildern von Konferenzen und Seminaren.
Der Verwaltungsbezirk Nookat – oder „Rayon Nookat“, wie es in sowjetischer Tradition heißt – besteht aus einem Dutzend kleiner Dörfer, die durch eine lang gezogene Schotterstraße verbunden sind. Etwa eine halbe Stunde fährt man vom Dorf Karatasch, in dem die Familie wohnt, bis ins Verwaltungszentrum Nookat. Hinzu kommt die Wartezeit. Denn die ausgedienten klapprigen Militärtransporter, die als öffentliche Verkehrsmittel dienen, fahren erst ab, wenn sie voll sind. Aber Raushan lässt sich darauf erst gar nicht ein. Sie hat ein eigenes Auto mit Fahrer.
Die Dörfer, die auf dem Weg nach Nookat liegen, bestehen aus niedrigen Häusern mit geschnitzten Holztoren und kleinen Gärten dahinter. In Nookat hingegen durften sowjetische Architekten Betonbauten zwischen die alten Häuser stellen und sie mit sozialistischen Fresken versehen, durften leere Betonplätze schaffen, die von verrosteten, windschiefen Lampen eingefasst sind.
Nargisa, die älteste der Töchter, ist mit nach Nookat gekommen. Überall trifft sie ehemalige Klassenkameradinnen. Und alle sind verheiratet oder doch zumindest verlobt. Spätestens nach dem Ende des Studiums sollte eine Frau hier heiraten. Jedenfalls wenn sie Kirgisin ist. Für Russinnen gelten diese Regeln nicht. Wenn eine Kirgisin mit 26 Jahren noch ledig ist wie Nargisa, gerät sie schnell in den Verdacht, keinen abbekommen zu haben.
Nargisa will lieber noch ein paar Jahre Berufserfahrung sammeln, ehe sie eine Familie gründet. Aber ihre Mutter setzt sie unter Druck. Sie solle Kinder bekommen, bevor sie 30 sei. Zur Not könne sie sich danach immer noch scheiden lassen, wenn ihr der Mann nicht passe. Wenigstens seien die Kinder dann da. Aber Nargisa findet diese Haltung zu kaltblütig. „Wenn ich schon heirate, dann soll die Ehe auch mein Leben lang halten“, meint sie.
Nargisa wollte Soziologie studieren, aber ihre Mutter meinte, das sei kein weibliches Studium. Also hat sie Englisch studiert und danach einen Arbeitsplatz bei einer kirgisischen Frauen-NGO gefunden. Nun lebt sie in der Hauptstadt Bischkek, weit weg von ihrem Heimatort. Freilich ist sie damit der familiären Kontrolle nicht entkommen. Sie wohnt zusammen mit der Familie ihres Bruders in einem Haus, das ihr Vater eigenhändig in Bischkek gebaut hat, nach dem Vorbild des Elternhauses: mit Plumpsklo und Banja. Zweimal die Woche backen die Frauen dort Brot, und alle paar Wochen schickt Nargisas Mutter Säcke voll Kartoffeln, Weizen, Früchten und getrocknetem Fleisch nach Bischkek. Ein Leben in der Stadt, als wär’s auf dem Dorf.
Auf dem Markt in Nookat sitzen Bauern vor Eimern voll Trauben, Äpfeln und Aprikosen, Frauen mit fleischigen Armen verkaufen Jogurt und Butter. Doch alles, was nicht essbar ist, kommt von woanders her: Papierwaren aus Russland, Stoffe und Kleider aus der Türkei und dem benachbarten Usbekistan, Plastikspielzeug und Kugelschreiber aus China.
Als es die Sowjetunion noch gab, war alles einfacher: Die Kirgisen exportierten Fleisch, Tabak und Früchte in die anderen Sowjetrepubliken und bekamen alles andere von dort. Dann zerfiel die Sowjetunion, und mit ihr verschwand der staatlich geregelte Warenaustausch. Es entstanden zahlreiche Staatsgrenzen. Viele Frauen, die zuvor großenteils in den mittleren und niedrigen Ebenen des Staatsdienstes gearbeitet hatten und nun arbeitslos geworden waren, erkannten ihre Chance und verlegten sich auf den grenzüberschreitenden Kleinhandel.
So wie die 42-jährige Scharifa sitzt in einer Bude voll langer Kleider. Früher war sie Schneiderin, aber nach dem Ende der UdSSR begann sie, in China und der Türkei Kleidung einzukaufen und hier auf dem Markt zu verkaufen. Alle Handelspartner seien Frauen, sagt sie. Mit ihrem Einkommen zieht sie auch ihre beiden Söhne groß. „Die Frauen sind flexibler als die Männer, was die neue Situation angeht“, sagt Rosa Aitmatowa. Die Schwester des Schriftstellers Dschingis Aitmatow hat eine Frauen-NGO gegründet, denn die Frauen haben auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. „Die Grenzbeamten sind korrupt und belästigen die Frauen“, sagt Rosa Aitmatowa. „Es kommt sogar inzwischen zu Frauenhandel: Kirgisinnen werden, indem man ihnen einen Arbeitsplatz verspricht, nach China gelockt und dort zur Prostitution gezwungen.“
Das hört Osekowa Erkingul Adylowna nicht so gern. Sie ist vor kurzem zur Vizepräsidentin des Regierungsbezirks Nookat bestellt worden und hat den Wunsch geäußert, ein Gespräch mit der ausländischen Journalistin zu führen, die sich am Ort befindet. Mit dem Thema Frauenhandel habe sie sich nicht beschäftigt, sagt sie, das falle nicht in ihr Ressort. Sie hoffe aber, es gebe bald keinen Anlass mehr zu kritischen Fragen.
Als ich zurück in Karatasch bin, kommt Nargisas jüngere Schwester zu Besuch. Noch bevor sie ihr Sprachenstudium beendet hatte, wollte sie .heiraten. Die Mutter fand das zu früh. Da hat sie sich von ihrem Freund entführen lassen und die Eltern vor vollendete Tatsachen gestellt.
Entführungen kommen in Kirgistan noch immer recht häufig vor. Während normalerweise in islamischen Ländern auf eine Entführung jedoch eine Vergewaltigung folgt und das Mädchen dann – der Familienehre halber – den Vergewaltiger heiraten muss, hat die Entführte in Kirgistan die Wahl. Wenn sie den Mann nicht will, wird sie wieder nach Hause gebracht. Und wenn sie ihn nimmt, hat sie den Rest des Lebens eine starke Position inne: Sie wird dem Mann ewig vorhalten, er habe sie zur Ehe gezwungen.
Nargisas Schwester aber sieht nicht aus, als ob sie ihrem Mann Vorhaltungen mache. Sie trägt ein Baby auf dem Arm und lächelt. Sie wird ihr Studium beenden und dann Lehrerin werden.
Nach dem Abendessen huschen ein paar Nachbarinnen herein. Heute kommt „Esmeralda“ im Fernsehen, eine brasilianische Arztserie. Die Nachbarinnen setzen sich vor den Fernseher und verfolgen die jüngste Entwicklung zwischen der schönen Krankenschwester und dem jungen Arzt. Als das Programm zu Ende ist, stehen sie wortlos auf und gehen nach Haus.
Um zehn Uhr abends geht das Licht aus. Der Regierungsbezirk hat seine Stromschulden nicht bezahlt, deswegen gibt es nur noch ein paar Stunden Strom täglich. Im Stall meckert die Ziege. Auf dem Dachboden veranstalten die Mäuse Mäuserennen. Am nächsten Tag wird Nargisa das Flugzeug besteigen und nach Bischkek zurückfliegen, während ihr Vater auf seinem Pferd aufs Feld reitet und ihre Mutter ihren Fahrer herumkommandiert.
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