Abenteuer für die Augen

Erstmals zeigt ein deutsches Museum in einer Einzelausstellung Musikvideos: In der Hannoveraner Kestner Gesellschaft sind eindrucksvolle Arbeiten des britischen Filmkünstlers Chris Cunningham zu sehen, der beispielsweise den Clip zu Björks „All is full of Love“ gedreht hat

Herkunft erfolgreich verleugnet: Halbfertige Androidinnen mit Elfengefühlen

Die Kunstform Musikclip ist in den letzten 20 Jahren die einzige gewesen, in der innovativ gearbeitet wurde. Warum wir so thesenhaft in diesen Text einsteigen? Weil wir immer noch nicht verstehen, dass unsere Musentempel dieser Ästhetik so wenig Beachtung schenken. Obwohl Beispielhaftes zu bestaunen wäre, geht doch im Bilderbeschleunigungsmechanismus dieses Mediums das Artifizielle mit dem Kommerziellen eine populäre Koalition ein. Entsteht doch aus aktueller Computertechnologie, Film- und Videokunst sowie dem Zeichenvokabular der Popkultur eine neue Bildsprache, die einer der Regisseure des Genres, Chris Cunningham, als „live action cartoons“ bezeichnet.

Dem britischen Künstler (Jahrgang 1970) beschert die Hannoveraner Kestner Gesellschaft derzeit die erste Einzelausstellung in Deutschland. Und gibt sich skeptisch. Da die Sichtbarkeit der Werke Cunninghams nicht an „die Kunstbetriebssysteme Galerie, Museum, Katalog“ gekoppelt sei und durch die TV-Kanäle weltweit ein Millionenpublikum erreiche, fragt Kestner-Direktor Veit Görner: „Disqualifizieren diese äußeren Umstände bereits für die Betrachtung als Kunst?“ Dabei müsste die Frage doch anders herum gestellt werden: Disqualifiziert sich nicht gerade jene Kunst, die ausschließlich im Kontext „Galerie, Museum, Katalog“ präsent ist, als elitär und unfähig zur gesellschaftlichen Kommunikation?

Natürlich ist nicht jedes Musikvideo Clipkunst, weil es im Fernsehen immer zuerst einmal Warenwerbung zu sein hat. Aber Cunningham gehört zu den Autorenfilmern, die in den 90ern ihre Clips nicht mehr nur als Imagebildendes Popstar-Vehikel realisierten, sondern Bedeutungsebenen der Songs visualisierten. Oder sich von der Musik ganz emanzipierten, sie als Soundtrack für ihr Medium nutzten.

Cunningham bedient sich der Kinomittel Hollywoods mit all dem Symbolismus der Filmgenres. Als ehemaliger Special-Effect-Designer (beispielsweise für Alien 3) beherrscht er zudem die digitale Bildanimation und vereinnahmt nebenbei Themen und Ästhetiken der Bildenden Kunst. So entstehen Abenteuerschauplätze für unser Sehen, auf dem sich Realität und Fiktion miteinander verbinden.

Am eindrücklichsten demonstriert das der Björk-Clip All is full of love, der das Verhältnis von Liebe und Körper im Zeitalter der Mensch-Maschine-Debatte behandelt: Zwei Androiden in weißer Hartplastikhaut werden vom elfenhaften Antlitz der isländischen Chanteuse belebt, nehmen während ihrer Produktion in einer klinischen Montagehalle die eigene Körperlichkeit mit Erstaunen wahr und beginnen die Verschmelzung mit der Doppelgängerin. In zärtlichen Berührungen entwickeln die halbfertigen Roboterinnen bereits Mimik, Gefühle und Erotik, lieben sich mit einer derartigen Innigkeit, dass sie die tackernde, schraubende Mechanik der Maschinenarme gar nicht bemerken, sondern der inneren Eingebung zum Küssen folgen. Und sich so von ihrer „Herkunft“ lösen.

Einen Technologisierungsschritt weiter geht Cunningham in Monkey Drummer, wo ein Gestänge mit acht Extremitäten auf Snare- und Synthie-Drum herumwirbelt, mit dem Penis die Becken schlägt: eine hyterisierte Hindugottheit aus der Zukunft als Organisatorin kreischend aufgesplitterter Techno-Partikel.

Wie baut man eine Ausstellung für außergewöhnliche Clip-Art? Gewöhnlich. Ein Raum ist mit sechs Bildschirmen und Plastikstühlen bestückt, so dass man in aller Ruhe laute Musik sehen kann. Ein Museumssaal ist leer, nur ein Band aus Din-A-4-Computerausdrucken von Filmszenen Cunninghams umläuft die Wände, deutet immerhin die Gemeinsamkeit der meisten Werke an: eine düstere, kalt aggressive Atmosphäre, die den Körpern mit all ihren ihren Pickeln, Schrunden und Wallungen Wirkung verschafft.

Aber Cunningham weiß sich auch mit ironischen Abrechnungen zu artikulieren. Gegen die Stupidität des Macho-Kults der meisten HipHop- und Rock-Videos setzt er „Windowlicker“, eine Parade einschlägig rassistischer und sexistischer Körperinszenierungen voller Irritationen. Auf mit Bikinis bekleideten Frauenkörpern sitzen haarige Mackerköpfe – ein ästhetischer Kontrast, der krasser nicht sein könnte.

Technisch perfekt, anspielungsreich, witzig, intelligent: Chris Cunninghams Videoclips sind ideale Beispiele, um vom künstlerisch innovativen Charakter und der kommunikativen Kompetenz dieses Film-Genres zu künden. Jens Fischer

Kestner Gesellschaft Hannover, Goseriede 11; Di–So 10–19, Do bis 21 Uhr; bis 11.7.