: Wahlkampf mit Wohlfühlwelle
Indiens Parlamentswahl beginnt mit Terror radikaler Rebellen. Die Wähler stimmen dennoch für den gemäßigten Kurs des Reformers Vajpayee
AUS DELHI BERNARD IMHASLY
Auf die Frage nach den Hauptthemen des indischen Wahlkampfs antworteteder Generalsekretär der Bharatiya Janata Party (BJP): „Vajpayee, Vajpayee, Vajpayee.“ Der Premierminister Indiens ist allgegenwärtig. Jeder Wahlredner der regierenden „National Democratic Alliance“ (NDA) schmückt sich mit seinen Worten, jedes Wahlplakat mit dem Konterfei des weißhaarigen Landesvaters. Er ist die Lokomotive der rund 22 Koalitionsparteien und reist trotz seiner bald achtzig Jahre kreuz und quer durchs Land. Und auch wenn der gestrige Beginn der Parlamentswahlen von Bombenanschlägen und Überfällen auf die Wahllokale überschattet war, zeichnetsich ab, dass diese Wahlkampfstrategie erfolgreich sein wird: Premierminister Vajpayee liegt weit vorn.
Seine Fähigkeit, eine Koalition von nationalen und regionalen, säkularen und religiösen, Ein-Mann- und Großparteien erfolgreich zu führen, ist eine der vier Leistungen, mit denen die NDA jetzt beim Wähler hausieren geht. Damit hängt seine zweite Errungenschaft zusammen: Er konnte seine eigene hindu-nationalistische BJP auf einen gemäßigten Kurs bringen. Mit Ausnahme des schrecklichen Pogroms in Gujarat und der Ayodhya-Kampagnen der Extremisten in den eigenen Reihen stellte die BJP ihre kontroversen (meist antimuslimischen) Themen unter den Scheffel. Die Muslimfeindlichkeit seiner Partei hinderte den Premierminister auch nicht daran, mit dem islamischen Nachbarstaat Pakistan immer wieder den Dialog zu suchen. Vajpayees vierte Leistung war die erfolgreiche Fortführung der wirtschaftlichen Reformpolitik. Trotz langer Dürreperioden verzeichnete Indien in Vajpayees Regierungszeit ein jährliches Wachstum von 6 Prozent. Mit einem feinen Gespür für symbolische Gesten lancierte er große Infrastrukturprojekte in Straßenbau und Bewässerung. Der Erfolg der indischen Industrie entwaffnete die zahlreichen Kritiker in der Koalition, welche der Globalisierung Indiens und der Privatisierung des Staatssektors misstrauisch gegenüberstanden.
Die wirtschaftlichen Erfolge bilden nun die Grundlage der BJP-Wahlkampagne, die das „Leuchtende Indien“ zu ihrem Slogan gemacht hat. In ihrem Wahlmanifest verspricht die NDA, die Reformen fortzuführen. Die Opposition hat Mühe, die Wohlfühlwelle zu stoppen. Dabei hätte sie genügend Anlass zur Kritik an Vajpayee. Die Ausschreitungen in Gujarat offenbaren einen opportunistischen Politiker, der nicht den Mut hat, die Schlägertrupps zur Ordnung zu rufen, weil er spürt, dass die minderheitenfeindliche Stimmungsmache bei Hindu-Wählern populär ist. Die Reformen begünstigen die städtischen Mittelschichten, ließen aber bisher die große Masse der armen ländlichen Bevölkerung – rund 650 Millionen Menschen – auf der Seite liegen. Der Anteil der absolut Armen mag geschrumpft sein, doch die menschenunwürdigen Lebensbedingungen dieser 260 Millionen Menschen haben sich vertieft. Dem rasanten Wachstum der Informationstechnologie steht die ungleich größere Zahl von Beschäftigungslosen gegenüber.
Der Opposition ist es nicht gelungen, diese Schwächen in eine Kampfstrategie zu übersetzen. Sie war auch nicht fähig, ihr Stimmpotenzial durch Wahlabsprachen zu vereinen. Die Schuld dafür wird in erster Linie der Kongresspartei in die Schuhe geschoben. Diese scheint unfähig, ihren seit 15 Jahren anhaltenden Niedergang aufzuhalten. Und hängt sich auch weiterhin an den Rockzipfel der Nehru-Gandhi-Dynastie. Doch gegen Oppositionsführerin Sonia Gandhi, der Witwe von Rajiv und Schwiegertochter Indira Gandhis, gibt es latent ausländerfeindliche Reflexe. Man nimmt Sonia Gandhi ihre italienische Herkunft übel, was die BJP übrigens genüsslich ausschlachtet. Außerdem macht das fehlende persönliche Charisma Sonias, das gerade im Vergleich mit Vajpayee hervorsticht, sie für die Populisten der Kleinparteien zu einem wenig attraktiven Bündnispartner. Umfragen sagen der Opposition eine klare Niederlage voraus. Ob dies aber für eine klare NDA-Mehrheit von rund 300 Sitzen (von insgesamt 543) reicht? Indiens Wahlvolk ist nach Region und Sprache, Kaste und Religion zersplittert, und die 170 Parteien, die sich dem Wähler stellen, können auch die Stimmen breit streuen.
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