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Die Ehre der Klitschkos

Im Zeichen des Niedergangs der Wohlfahrtsstaaten bekommen Kategorien wie „Rache“, „Vergeltung“, „Ehre“ einen neuen Stellenwert. Jüngstes Beispiel: Die Bruder-Rache der Klitschkos

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Seitdem Wladimir Klitschko von zweitklassigen Boxern verprügelt wird, macht das Wort von der „Familienehre“ die Runde. Der größere Bruder Vitali solle, ja, müsse sie wiederherstellen, tönte es nach den zwei K.o.-Niederlagen der von den Deutschen adoptierten ukrainischen Schwergewichtshoffnung unisono aus den Medien. Der ZDF-Kommentator von Vitalis Kampf gegen Corrie Sanders, der Wladimir vor einem Jahr (damals noch) überraschend ausknockte, ging weiter: „Die Rache des Bruders, Vergeltung für den 8. März, die Familienehre der Klitschkos steht auf dem Spiel“, verkündete er atemlos zu Beginn der 7. Runde.

Ehre also – und andere unzivile Worte. Ehre ist ein altmodischer Begriff: Laut philosophischem Wörterbuch bezeichnet er „den zentralen ethischen Wert heroischer Frühzeiten und ritterlicher Kulturen“. Bemerkenswert, dass zu einem Zeitpunkt, an dem die spätbürgerliche Gesellschaft ökonomisch und sozial entgleist, vorbürgerliche Werte eine Renaissance erleben: dass sich insbesondere an den Rändern des erodierenden Wohlfahrtsstaats, im Bereich des subkulturellen Faustrechts, neue ethische Kulturen ausbilden. Nirgendwo haben Worte und Werte wie „Respekt“ einen höheren Stellenwert als im kanakisch sprechenden Teil der Bevölkerung – der weiß Gott nicht nur aus Männern mit ausländischem Pass besteht. An den vermeintlichen Rändern der Gesellschaft entstehen Kulturen, die den Verhaltenskanon einer neuen Pioniergesellschaft vorzeichnen: einer Gesellschaft nicht des Auf-, sondern des Abbruchs. Im Zeichen des Niedergangs der klassischen europäischen Wohlfahrtsstaaten werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass Kategorien wie „Rache“, „Vergeltung“, „Ehre“ einen neuen Stellenwert bekommen. In den verödenden und verslummenden Metropolen werden immer mehr Gruppierungen aus jenen Personenkreisen entstehen, die kein Unterkommen in der Zweidrittelgesellschaft finden. Eine Mischung aus multiethnischen Gangs, Jugendgruppen und halb kriminellen Milieus, die nach Regelsystemen funktionieren, die im Kern der Logik mafioser „Familienstrukturen“ folgen: „Ritterliche“ Ehrenkodizes nach innen und faustrechtlich-terroristische Selbstbehauptung nach außen. Wenn die Voraussagen der Sozialpsychologen zutreffen, dann werden sich im Weichbild der Demokratien regelrechte „Stammeskulturen“ mit eigenen Gesetzen und Wertesystemen ausbilden.

Der werbewirksame Erfolg der Klitschko-Story reflektiert diese Veränderung. Dass der doppelte „Doktor Faust“ – die Verbindung von Körperkraft und Intellekt samt dem abgründigen Charme einer osteuropäischen Herkunft, auf die archaische Bedürfnisse projiziert werden können – so heftig Konjunktur hat, ist Teil des gesellschaftlichen Umbruchs. Es geht um „role models“ einer Gesellschaft, in der sich Elemente von Zivilität und Refeudalisierung mischen. Vom Taxifahrer zum Außenminister: Das ist Aufstiegsmodell von gestern, der verwirklichte Traum einer demokratischen Gesellschaft, die allen gleiche Chancen verspricht. Heute geht es längst um etwas anderes. Im Zeichen der Erodierung sozialstaatlicher Garantien für eine menschenwürdige Lebensgestaltung geht es um die Beschwörung von Gemeinschaftswerten, die gegen die Zumutungen von Anonymisierung und die Bedrohungen der Globalisierung schützen sollen. „Familienehre“ ist so etwas. Gerade weil man sie angeblich mit der Faust wiederherstellen kann. Am Geschrei um die Ehre der Brüder Klitschko lässt sich ablesen, dass im Mutterland des Dr. Faustus neue Gretchenfragen auftauchen. Solche, die bislang eher in Caracas oder Kuala Lumpur gestellt wurden.

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