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antisemitismuskonferenzDefizite und Tabus

Die OSZE-Konferenz dieser Woche zum Antisemitismus findet zur richtigen Zeit statt. Denn seine Bekämpfung wird durch den Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder zur Europäischen Union verschärft. In erster Linie ist hier die vor allem im Osten Europas weit verbreitete Ansicht zu nennen, man müsse unterscheiden zwischen einem harmlosen, traditionell in den Volkssitten und -gebräuchen verwurzelten, meist religiös fundierten Vorurteilen gegen die Juden einerseits und dem militanten, rassisch begründeten Antisemitismus andererseits.

KOMMENTAR VON CHRISTIAN SEMLER

Doch oft werden antisemitische Stereotype gar nicht als solche wahrgenommen und erscheinen folgerichtig auch nicht in den entsprechenden Analysen. Die Debatte um das so lange unbeachtet gebliebene Judenpogrom von Jedwabne im Nachkriegspolen liefert für diese Haltung reiches Anschauungsmaterial. Dass aber „harmloser“ Antisemitismus allzu leicht in terroristischen umschlagen kann, hat sich auch in Westeuropa noch nicht hinreichend herumgesprochen.

Gefährlich ist auch die Tendenz, den bei islamistischen Gruppen grassierenden Antisemitismus einseitig in den Vordergrund der Bedrohungsanalyse zu stellen, ihn damit quasi außer Landes zu bringen und den prägenden Einfluss des „modernen“ europäischen Antisemitismus auf diese Bewegungen gering zu achten. Bei Auffassungen dieser Art wird oft dem Islam im Ganzen eine Grundhaltung unterstellt, die viel eher auf das traditionelle Christentum zuträfe.

Richtigerweise wird in den Materialien der Konferenz von einem verbreiteten „latenten“ Antisemitismus in Europa ausgegangen, der sich vor einem offenherzigen Bekenntnis zur Judenfeindschaft scheut, weil der antisemitische Sprachgebrauch offiziell tabuisiert oder sogar unter Strafe gestellt ist. Freilich kann der Vorwurf des latenten Antisemitismus Latenz auch als Schlagstock dienen. Wir werden gegenwärtig mit ideologischen Konstrukten konfrontiert, die den Vormarsch eines neuen Antisemitismus behaupten, der sich aus Antiamerikanismus und Antizionismus speise. Wer die aktuelle Politik von Bush oder Scharon im Grundsatz kritisiert, ist demnach Antisemit und sich dieser Tatsache nur noch nicht bewusst. Solche Immunisierungsstrategien gegen eine Auseinandersetzung mit dem Handeln der israelischen Regierung sind nicht nur verfehlt, sie schaden auch dem Kampf gegen den realen Antisemitismus in Europa.

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