piwik no script img

Das neue Europa

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

1. Wer hat den Machtpoker gewonnen?

Ein guter Kompromiss besteht ja angeblich darin, dass alle Beteiligten unzufrieden sind. Da sowohl die Kommission als auch Europaparlament und Regierungsvertreter an dem vorliegenden Text viel auszusetzen haben, scheint die Machtbalance gelungen. Tatsächlich wird der Kommissionspräsident künftig vom Europäischen Parlament gewählt und dadurch demokratisch besser legitimiert. Auch Richtlinienkompetenz und das Recht, die Ressorts selbst einzuteilen, wachsen ihm zu. Doch 25 Kommissare, davon 10 ohne Stimmrecht, könnten seine Arbeit behindern. Ganz sicher hat das Europäische Parlament gewonnen, da es volles Budgetrecht und volle Mitentscheidung bei allen Gesetzen erhalten soll. Auch die nationalen Parlamente stehen besser da. Sie müssen über alles, was in Brüssel ausgeheckt wird, auf dem Laufenden gehalten werden. Zum ersten Mal können sie die Kommission dazu zwingen, Gesetzesvorhaben zurückzuziehen, die ihre Kompetenz überschreiten.

2. Und wer hat verloren?

Es sind die Regierungen, die deutlich an Einfluss verlieren. Statt des von den großen Staaten geforderten mächtigen Präsidenten bekommen sie einen schwachen Sitzungsleiter, der nur alle drei Monate beim Europäischen Rat in Erscheinung tritt. Gesetze müssen künftig öffentlich ausgehandelt werden, das lässt wenig Spielraum für Tauschgeschäfte. Die Räte der Fachminister wechseln den Vorsitz jährlich nach einem komplizierten und nicht eindeutig festgelegten Rotationssystem, das verringert ihre Effizienz. Der Außenminister leitet zwar den Rat für Auswärtige Angelegenheiten während seiner ganzen Amtszeit, er kann aber nur tätig werden, wenn sich alle Regierungen einig sind. Seine Aufgaben sind zudem nicht klar von denen des Ratspräsidenten abgegrenzt. Der Einfluss der Regierungen auf die Kommission sinkt ebenfalls, da nur jeweils fünfzehn von ihnen einen Kommissar mit Stimmrecht nach Brüssel schicken können.

3. Kann der Normalbürger die Verfassung verstehen?

Wer schon einmal einen Blick in den Vertrag von Nizza oder einen seiner Vorläufer getan hat, wird die Arbeit des Konvents und der juristischen Dienste zu schätzen wissen. Viele Einzelbestimmungen, die bislang unsystematisch über mehrere Vertragstexte verteilt waren, sind nun gebündelt und aufeinander bezogen. Das ehrgeizige Ziel, den Text in einen Verfassungskern mit den politischen Grundsätzen und Leitlinien und ein Vertragswerk mit ausführenden Bestimmungen zu teilen, wurde aber nicht erreicht. Die ursprünglich als Verfassung angelegten Teile I und II umfassen noch immer mehr als 70 Seiten mit Fußnoten, Zusatzprotokollen, Anhängen und Erklärungen. Der von Valérie Giscard d’Estaing formulierten Präambel ist das Ringen um Worte und Werte deutlich anzumerken. Die Grundrechtscharta, die eine eigene Präambel hat und eigentlich an den Beginn der Verfassung gehört, ist in Teil II versteckt worden und hat einen einschränkenden Zusatz erhalten.

4. Wird die EU jetzt demokratischer?

Für viele Konventsteilnehmer ist die Tatsache, dass die Charta überhaupt in den Text aufgenommen wurde, von großer Bedeutung. Sie begründet zwar keinen direkten juristischen Anspruch des Einzelnen. Doch sie verändert den gedanklichen Rahmen der Justiz – schon heute. In vielen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs wird in der Begründung auf die Charta Bezug genommen, obwohl sie noch keinen Verfassungsrang hat. Durch die Verabschiedung der Verfassung dürfte diese Entwicklung noch verstärkt werden. Rechte wie Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Integration von Behinderten, soziale Leistungen und Datenschutz oder Verbote wie das Klonen von Menschen werden deutlich aufgewertet. Wenn eine Million Unterschriften aus einer relevanten Zahl von Mitgliedsstaaten zusammenkommen, kann die EU-Kommission aufgefordert werden, ein Gesetzesprojekt zu starten. Dieses Instrument direkter Demokratie gibt es bereits in einigen Mitgliedsstaaten – aber nicht in der Bundesrepublik.

5. Funktioniert die EU künftig besser?

Die Brüsseler Mühlen mahlen langsam. Erst im April 2004, wenn die zehn neuen Länder beitreten, wird der jetzt geltende Nizza-Vertrag dem Härtetest unterzogen. Da aber schon im sehr viel kleineren Kreis aus fünfzehn Mitgliedern die Union in den letzten Jahren sehr schwerfällig geworden war, lässt sich für die kommenden Jahre eine zunehmende Lähmung voraussagen. Die nun vorgeschlagene Reform macht Europa beweglicher – schon deshalb, weil Mehrheitsentscheidungen der Regelfall werden sollen. An vielen Stellen allerdings bleibt der Entwurf hinter den Erfordernissen zurück. Zwar wird der neue Außenminister, der gleichzeitig dem Rat und der Kommission angehören soll, als Klammer zwischen diesen beiden Institutionen wirken. Doch wird sein Einfluss in der Praxis kaum über das hinausgehen, was derzeit der Hohe Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana bewegen kann. Auch der Konstruktionsfehler, der am Nizza-Vertrag besonders gerügt wird – ein Kommissar für jedes Land – ist durch die neue Einteilung in Kommissar mit und ohne Stimmrecht nicht behoben worden.

6. Wird die Bürokratie aufgebläht?

Da entgegen allen Stammtischgerüchten in Brüssel nicht zu viele, sondern zu wenige Beamte sitzen, um das Geld sinnvoll auszugeben und die Arbeit ordentlich zu erledigen, wäre ein bisschen mehr Bürokratie kein Schaden. Da aber der Ratspräsident mit dem bereits bestehenden Ratssekretariat auskommen muss, wird nur der Außenminister zusätzliche Leute brauchen. Auf Drängen von Joschka Fischer wurde in letzter Minute ein Abschnitt in den Text aufgenommen, der einen diplomatischen Dienst aus Beamten von Rat, Kommission und Auslandsvertretungen der EU vorsieht. Unter Umständen wird aber auch dadurch Personal gespart, da Rat und Kommission bislang oft nebeneinanderher arbeiten. Zudem könnten mittelfristig auch diplomatische Vertretungen der Mitgliedsstaaten zusammengelegt und in diese Struktur einbezogen werden.

7. Warum tritt der Konvent im Juli noch einmal zusammen?

Der Präsident des Reformkonvents verordnete den 105 Delegierten zunächst eine lange Phase des gegenseitigen Zuhörens und Kennenlernens. Die Konventsmitglieder aus den neuen Mitgliedsländern brauchten eine Eingewöhnungszeit, um sich mit den komplizierten Details der Verträge vertraut zu machen. Doch selbst wenn der Konvent vom ersten Tag an die Ärmel hochgekrempelt und neue Texte beraten hätte, wäre er wohl nicht im vorgesehenen Zeitraum zum Ende gelangt. Er schaffte nur knapp den ersten Teil – die Ziele und Werte, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen EU, Ländern und Regionen, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Rat, Parlament und Kommission und die Spielregeln für Austritt, Hinauswurf und verstärkte Zusammenarbeit im kleinen Kreis. Noch nicht endgültig einigen konnte sich der Konvent jedoch auf die wichtige Frage, in welchen Bereichen der Rat künftig mit Mehrheit entscheidet und wo das Vetorecht eines Staates erhalten bleibt. Dies betrifft zum Beispiel die Außen- und Asylpolitik. Deshalb möchte Konventspräsident Giscard sich beim Gipfel von Thessaloniki ein Mandat für zweimal Nachsitzen im Juli holen. Wenn er es bekommt, ist das ein Signal dafür, dass der Rat ein geschlossenes Vertragswerk des Konvents zur Grundlage seiner Diskussionen machen will.

8. Was macht die Regierungskonferenz mit diesem Text?

Da den Regierungen deutlich bewusst ist, dass sie beim Konvent den Kürzeren gezogen haben, werden sie versuchen, die Scharte bei der Regierungskonferenz wieder auszuwetzen. Der Streit, wie mit den Früchten der 16-monatigen Arbeit verfahren werden soll, ist bereits voll entbrannt. Iren, Briten und Österreicher haben angekündigt, das Werk lediglich als „Diskussionsgrundlage“ betrachten zu wollen. Beobachter sind sich einig: Wenn das Kompromisspaket bei der Regierungskonferenz aufgeschnürt wird, bleibt von der Substanz nichts mehr übrig.

9. Wann tritt die Verfassung in Kraft?

Zunächst müssen die Staats- und Regierungschefs bei einem Gipfel dem neuen Vertrag einstimmig den Segen geben. Verläuft alles nach Plan, geschieht das am Ende der italienischen Präsidentschaft im Dezember in Rom. Dann müssen die Mitgliedsstaaten zustimmen. In vielen Ländern werden die Wahlberechtigten zu einem Referendum an die Urnen gebeten – zum Beispiel in Irland, Frankreich, Dänemark und Großbritannien, aber auch in vielen neuen Mitgliedsländern. In Deutschland müssen wahrscheinlich zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten zustimmen, da die neue Verfassung Grundgesetzbereiche berührt. Frühestens Ende 2005 wird dieser Prozess abgeschlossen sein. Dann sind Europaparlament und Kommission nach der Wahl im Sommer 2004 bereits mehr als ein Jahr im Amt. Bis zur nächsten Wahl 2009 ändert sich für sie gar nichts. Der neue Außenminister allerdings wird am ohnehin vollen Kommissionstisch auch noch einen Stuhl beanspruchen. Für die Stimmengewichtung im Rat, nach der die qualifizierte Mehrheit ermittelt wird, gilt ebenfalls eine Übergangsfrist bis zum 1. November 2009. Alle anderen Neuerungen treten sofort in Kraft.

10. Wie kann diese Verfassung verändert werden?

Jedes Mitgliedsland, das Europäische Parlament oder die Kommission kann Änderungsvorschläge machen. Sie werden den nationalen Parlamenten zur Kenntnis gebracht. Findet sich im Rat eine einfache Mehrheit dafür, die Vorschläge zu prüfen, kann der Präsident des Rates einen neuen Konvent zusammenrufen. Der Rat kann aber auch mit einfacher Mehrheit entscheiden, die Vorschläge sofort einer Regierungskonferenz zu unterbreiten, die sich einstimmig einigen muss. Falls nach zwei Jahren vier Fünftel der Mitgliedsstaaten den neuen Vertrag abgesegnet haben, kann der Rat störrischen Ländern Druck machen. Damit sollen künftig Blockaden wie beim Nizza-Vertrag, als die gesamte Union ängstlich auf Irland blickte, vermieden werden. Bislang sehen die Verträge diese Möglichkeit nicht vor. Auch das Vorschlagsrecht des Parlaments ist neu. Vor allem aber wird die Konventsmethode zum ersten Mal in der Verfassung verankert – vorausgesetzt, die Regierungschefs fürchten sich nicht vor der Basisdemokratie und kassieren den Paragrafen am Ende doch wieder ein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen