knock-out: Nächtliches Aufbleiben für einen anständigen Menschen
Meine Nacht mit Vitali …
Im Voraus: gekuschelt wurde nicht. Vitali war nämlich in L.A., ich in der Heimat, da gab es also keinerlei Vorkommnisse. Dennoch ist diese Nacht erwähnenswert, denn ich bin noch niemals „in der Nacht aufgestanden“. Nicht für Fußball, nicht für Formel eins oder gar Boxen. Nicht einmal dazumals, als ich noch sehr jung war und Muhammad Ali sich mit den Fraziers und Foremans dieser Welt herumschlug. Nie. Ich war immer zu faul und zu sehr meinem Nachtschlaf verfallen. Keiner hat mich jemals aus den Daunen getrieben. Außer jetzt: Vitali.
Warum das so ist? Ich verehre Vitali. Platonisch, wohlgemerkt. Ich finde nämlich, dass der Herr Doktor zu einer sehr rar gewordenen Spezies gehört. Der Spezies der anständigen Menschen. Obwohl er Leute verprügelt und ich ihn nicht persönlich kenne. Aber ich höre ihn reden, und ich sehe ihn sitzen und gucken, und ich weiß: Vitali ist in Ordnung. Zwei Ereignisse haben mich in dieser Meinung bestärkt. Erstens sein Auftritt vor gut zwei Jahren anlässlich eines Kampfs seines Bruders Wladimir in München. Ich glaube, es war gegen Derrick Jefferson. Irgendein Fallobst, das sich aber – wegen Ballyhoo – erdreistete, dem Klitschko-Bruder Wladimir anzudrohen, ihn eventuell zu töten. Jeder andere hätte diese Verbalattacke als nicht sonderlich originellen Versuch, die Stimmung anzuheizen, kalt lächelnd abgetan. Nicht so Vitali. Der stürmte nach dem – äußerst kurzen – Kampf in die Ecke des Herausforderers und beschimpfte ihn aufs Intensivste. Weil der mit einer solchen Drohung Schindluder getrieben hatte: Da hört der Spaß auf! Es gibt nämlich Leute, die im Ring sterben. Man kann so was uncool und albern finden und für nicht zeitgemäß halten, mir gefällt die altmodische Ernsthaftigkeit in solchen Dingen.
Zweitens eine Boxprominentenrunde im Rahmen eines ZDF-„Sportstudios“. Unter anderen die Klitschkos und der wie immer extrem aufgekratzt Witze reißende Promoter Don King. Kein Mensch, der es in der großen Boxszene zu was bringen will, kann es sich leisten, Don King nicht witzig zu finden. Vitali schon. Während alle anderen dem großen Zampano zumindest freundlich zulächelten, betrachtete der große Klitschko King wie ein ekliges Schleimtier. „Du bist ein Miststück, und ich mag dich nicht“, sagten seine Blicke sehr deutlich und während der gesamten Veranstaltung.
Das gefällt mir, und darum habe ich es für meine Pflicht als Sportenthusiast gehalten, einem solchen Menschen und Sportsmann durch persönliche Anwesenheit vor dem TV-Altar beizustehen. Ja – TV-Altar! Was schließlich ist der Fernsehkasten anderes, als ein Medium, vor dem wir uns versammeln, um unsere Energien zu bündeln, zum Wohle unserer Helden? Warum sonst rotten sich Männer immer in mehr oder weniger großen Haufen vor den Mattscheiben? Es ist ein Ritual. Es ist eine Beschwörung. Wir flehen den Sieg herbei, und dazu müssen wir den Götzendienst tun!
In dieser Nacht waren wir zu dritt vor dem Altar. Klaus, Alfred und ich. Unsere Gaben waren Salamipizzas und dunkles Bier. Und wir haben Buße getan. Die zähe Musik einer unausgegorenen Schülerband, und unzählige, im Grunde gleichlautende Expertenmeinungen über uns ergehen lassen. Sätze wie „wird das Glaskinn zum Scherbenhaufen des Abends?“ erduldet und einen wie immer Grauen erregend zusammenplissierten Michael Steinbrecher ertragen, der sich wohl demnächst als Scorsese des Sportfeuilletons wird feiern lassen.
All das haben wir demütig erlitten. Es war letztendlich umsonst. Ein böser Cut am linken Auge brachte Vitali in diesem Boxkampf gegen den Schwergewichtsweltmeister Lennox Lewis, dem er solange vergeblich nachgejagt war, um die möglichen Früchte seiner Mühen. Blutiges Ende nach Runde sechs, umstrittener Abbruchsieg für den Briten – schade drum. Einerseits. Andererseits hat sich jede Minute in dieser Nacht rentiert, denn zum Schluss waren zumindest Klaus, Alfred und ich um einige Erkenntnisse reicher. Beispielsweise, dass auch ein Verlierer, der aussieht wie ein geschlachtetes Schwein, ein Sieger sein kann. Und: dass Vitali in der oben erwähnten ZDF-Runde im „Sportstudio“ mit Don King vielleicht doch besser eine Spur freundlicher geguckt hätte.
ALBERT HEFELE
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