Götter und Menschen in Kafkania

Wer kennt Tschechien, das gerade die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat? Mariusz Szczygiel zeigt in brillanten Reportagen Menschen, die das kollektive Bewusstsein dieses Landes prägen

VON KATHARINA GRANZIN

Der größte Stalin der Welt stand in Prag. Fünfeinhalb Jahre lang war an dem 15 Meter hohen und 22 Meter langen, granitenen Koloss gebaut worden. Der Schöpfer des Denkmals, der Bildhauer Otakar Švec, hatte sich nur zwangsweise am Wettbewerb um den Denkmalsentwurf beteiligt und völlig gegen seine Absicht gewonnen.

Kurz vor Enthüllung des Denkmals nahm er sich das Leben. Das war 1955, Stalin war bereits zwei Jahre tot. Bald darauf leitete Chruschtschow in der Sowjetunion das politische Tauwetter ein. Der Prager Stalin überlebte den Stalinismus noch um sieben Jahre und wurde 1962 unter riesigem Aufwand wieder demontiert. Der Pyrotechniker, der die Verantwortung dafür trug, dass die Sprengung „würdevoll“ durchgeführt wurde – es durfte zum Beispiel nicht Stalins Kopf explodieren –, brachte 2.100 Sprengladungen an und landete danach in der Psychiatrie. „Vor der Sprengung hatte er zwei Wochen kein Auge zugetan“, erzählt seine Frau Jahrzehnte später dem Reporter Mariusz Szczygiel von der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, „seitdem kann er nicht mehr schlafen, das geht jetzt schon einundvierzig Jahre so.“

Weder über den Tod des Bildhauers noch über die Sprengung des Denkmals hatten die tschechischen Zeitungen berichtet. Dass Szczygiels Reportagenband „Gottland“ nicht nur in Polen, sondern auch in Tschechien selbst zu einem Riesenerfolg wurde, liegt sicher, aber nicht nur, daran, dass Szczygiel mit einer Fülle unbekannter Tatsachen aufwarten kann. Denn abgesehen davon, dass seine Reportagen großartig geschrieben sind, sind sie hervorragend recherchiert, wobei die Recherche oft genug zum Teil der Geschichte wird.

Die Geschehnisse um das Stalin-Denkmal sind dafür symptomatisch. So ist der Pole der Erste, der im Zentralarchiv des tschechischen Staates überhaupt nach Materialien über das Denkmal fragt; niemand hatte sich vorher dafür interessiert. Die Geheimdienstakte über den Selbstmord des Bildhauers wiederum ist verschwunden und wird erst zweieinhalb Jahre später, eine Woche vor Drucklegung von Szczygiels Buch, gefunden. So kann er zu seiner ursprünglichen Reportage immerhin noch schnell einen Nachtrag schreiben: Otakar Švec hatte sich mit Gas umgebracht. Seine Leiche lag fünfzig Tage lang in der Wohnung und wurde erst am Vortag der Denkmalsenthüllung entdeckt.

Durch die Biografien sämtlicher Personen, die Szczygiel vorstellt, ziehen sich die zahlreichen Brüche der tschechischen Geschichte des letzten Jahrhunderts. Der Filmstar Lída Baarová tritt auf, die Goebbels’ Geliebte war und sich später erfolgreich dumm stellte. Jan Procházka, Schriftsteller, und Marta Kubišová, Sängerin, werden porträtiert als stellvertretend für eine ganze Generation dissidenter Künstler, denen ihr Engagement gegen die „Normalisierung“ nach 1968 und für die Charta 77 zum Verhängnis wurde. Der Großindustrielle Tomáš Bata wird vorgestellt, der ein Schuhfabrik-Imperium aufbaute und in der Tschechoslowakei als Sinnbild des Kapitalisten schlechthin galt. Szczygiel greift zielsicher Geschichten auf, die im Tschechenbild der benachbarten Nationen wenig bis gar nicht präsent sind, doch im kollektiven tschechischen (Unter-)Bewusstsein eine große Rolle spielen.

Zwei der größten Ikonen der tschechischen Kultur, nämlich Franz Kafka und Karel Gott, spielen in diesem Band eher Nebenrollen, sind jedoch, wenn man genauer hinsieht, im Subtext vielerorts vorhanden, vor allem Ersterer. So gegensätzlich übrigens jene beiden als Kulturträger sein mögen, so haben sie zumindest eins gemeinsam: Jedem von ihnen ist ein Museum gewidmet. Während Kafka sich um seines nicht mehr selbst kümmern konnte, hat Gott, Karel, bereits zu Lebzeiten für den eigenen Nachruhm gesorgt. „Gottland“ heißt das Museum, das er in der Nähe von Prag hat einrichten lassen.

Und so lautet der Titel von Szczygiels Reportagenband auch im polnischen Original. Seine Vieldeutbarkeit ist Teil des literarischen Programms. Als Untertitel könnte man vorschlagen: „Die hohe Kunst der Reportage“.

Mariusz Szczygiel: „Gottland. Reportagen“. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Mit einem Nachwort von Martin Pollack. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 2008, 271 Seiten, 19,80 Euro