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Blitzschlag mit tollenden Hunden

In der Backfabrik macht die Lyrikwerkstatt mit einem deutsch-australischen Programm aus Poesie ein Publikumsevent

Ein paar Kilometer Richtung Niemandsland, irgendwo zwischen Jannowitzbrücke und Ostbahnhof: Ein australisches Theaterstück wird vertikal an der Wand eines Hochhauses aufgeführt. Hunderte von Schaulustigen blockieren die Straße und freuen sich lautstark, als sich endlich die Schauspieler abseilen und siebzig Meter über der Erde kreuz und quer ihre schwebenden Tänze aufführen. Ein Kindertraum, fliegen zu können oder zumindest in Siebenmeilenstiefeln von Wipfel zu Wipfel zu springen – aber auch Kunstkitsch, der sich besonders lohnt, wenn man erlebnishungrige Touristen durch die große Stadt zu führen hat. Mit der australischen Produktion „Homeland“ der Tanztheatergruppe Legs on the Wall lockt in diesem Jahr die Literaturwerkstatt sehr unkonventionell zu ihrem Poesiefestival mit australischem Schwerpunkt.

In Zeiten von Krisenblues und Rezessionsgejammer, in denen es weit vorm Bücherkauf um den Erhalt von Autoleasing und Bausparvertrag geht, fällt Lyrik als Allererstes weg. Nichts verkauft sich schlechter als Gedichte –umso löblicher das Projekt der Literaturwerkstatt, einen Großevent rund um Poesie auszurichten; umso nachvollziehbarer auch der Versuch, „die engen Formatgrenzen des Gedichts aufzugeben“, wie es der Leiter der Literaturwerkstatt, Thomas Wohlfahrt, formuliert, und Leute erzieherisch und listig mit Spektakeln wie „Homeland“, Konzerten oder ungewöhnlichen Kulissen zu locken. Das Gedicht als Ereignis – ein Konzept, das, zumindest was die Zuschauerzahlen angeht, aufgeht.

In der Backfabrik, die von außen wie in Plastik gegossen wirkt, hat die Festivalorganisation im Keller den letzten charmanten, weil unrenovierten Raum ausgegraben. Es geht um „Mundstücke“, eine Veranstaltung mit fünf Künstlern und Künstlerinnen der Lautpoesie. Voller Vorbehalte begibt man sich in diese Lesung: Hat HipHop Stottern, Schnalzen und Stocken, all die komischen Geräusche, bei denen es um Sound statt um Sinn geht, nicht längst in modernere Formen überführt? Paul Dutton aus Kanada führt kraft seiner Stimme Motorradbrummen auf, das sich in Bienensummen und Mönchsgesang verwandelt. Elke Schipper aus Deutschland liest etwas, das klingt, als könnte ein Werbetexter seinen Kopf nicht abstellen, weil er den ganzen Tag mit Alliterationen gearbeitet hat.

Es geht um große philosophische Fragen: die Entdeckung der Materialität der hörbaren Laute, den Verfall des Referenziellen, die Relativierung der Schrift. Aber hat sich bei der Umsetzung dieser hehren Ideen, seit den Zwanzigerjahren, seit Dada etwa, noch etwas getan? Den Leuten scheint’s egal zu sein: Trotz schönsten Wetters sitzen sie hier, mindestens zweihundert, johlen und pfeifen und lassen es nicht zu, dass avantgardistische Anliegen formuliert werden können. Um den Kunstbetrieb von heute zu stören, müsste man hier wohl eher Rilkes „Duineser Elegien“ an einem Stück vorlesen, bierernst, ohne Punkt und Komma.

Am nächsten Abend: „Lyrik von Jetzt“, eine Anthologie mit 296 Gedichten von 74 nach 1965 geborenen Autoren und Dichtern stellt sich vor. Selbstbewusst heißt es, man wolle die Nachfolge von Hans Magnus Enzensbergers Museum der Modernen Poesie antreten. Dreißig Autoren lesen jeweils fünf Minuten, dazwischen gibt es Musik und Getränkeausschank.

Hier sind noch mehr Zuhörer und produzieren eine Aufgeregtheit, als wäre Robbie Williams angekündigt. Die exzessiv genutzten Pausen zwischen den Lesungsblöcken stören, das Klappern der Getränke im Hintergrund auch. Auf einmal prasseln tolle Sätze los. Zum Beispiel „Die Mobilität des Wassers müsste man mieten können.“ Oder: „Heute habe ich einen Mann von mir getrennt.“ „Ich gehe Blitze schlagen“, liest einer, eine andere: „Tollende Hunde, einer, ein weißer, wird Elekro-Holunder gerufen.“

Plötzlich wünscht man sich, man hätte mehr Zeit für solche Sätze. Dass man sich mal wieder völlig uncool grüblerisch ans Kinn fassen dürfte. Auch wenn die Leute durch Events wie das Poesiefestival wieder Lust auf Lyrik zu bekommen scheinen: Nimmt der Schnickschnack überhand, hat man doch ab und zu wieder Sehnsucht nach Graubrot, nach dem harten Wort, um das es doch eigentlich geht, und seien es die „Duineser Elegien“.

SUSANNE MESSMER

Bis 5. 7., heute, 23 Uhr: zum letzten Mal „Homeland“ von Legs on the Wall, Lichtenberger Straße, Ecke Holzmarktstraße, Mitte. Täglich, 17 Uhr, in der Backfabrik: Gespräche mit Dichtern und Kritikern zur Lyrik. Backfabrik, Saarbrücker Str. 36, Prenzlauer Berg. Mehr Programm unter www.poesiefestival.de

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