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„Verborgene Schätze zeigen“

Die Demokratisierung des Wissens zeichnet die Ausstellung „Bookmarks“ in der Kestner Gesellschaft in Hannover nach. Sie zeigt Keilschriften, alte Bibeln und Ferngläser aus der dortigen Leibniz-Bibliothek und hat das Ganze werbewirksam auf YouTube hochgeladen. Ein bizarres und schlaues Konzept

FRANK-THORSTEN MOLL, 31, studierte Kunstgeschichte und Philosophie. Seit 2006 ist er Kurator an der Kestner-Gesellschaft.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Moll, halten sich alte und zeitgenössische Exponate in Ihrer Schau die Waage?

Frank-Thorsten Moll: Um das zu beantworten, müssten wir die alten Exponate, die auf unsere YouTube-Seite hochgeladen wurden, als Objekte mitzählen. So gesehen käme wohl eine Überzahl alter Exponate heraus. Das ist aber nicht entscheidend. Denn unsere Schau besteht grundsätzlich aus zwei gleichberechtigten Teilen: einerseits der „Schatzkammer“, die Exponate der Hannoverschen Gottfried Wilhelm Leibniz zeigt, und andererseits dem Labor, das sich um YouTube kümmert.

Und dort sind Ihre Exponate noch einmal zu sehen.

Ja. Wir haben alle Exponate gescannt und von einigen – Landkarten etwa – Filme gemacht, sodass man sie optisch quasi abfahren, abtasten kann. Wir möchten unsere Objekte einfach digital verfügbar machen. Wobei wir nicht Original und digitale Kopie gegeneinander ausspielen wollen, sondern beide Möglichkeiten eigen. Denn sowohl unsere Kooperationspartner in der Bibliothek als auch wir glauben, dass sowohl das Digitalisieren als auch das Anschauen des Originals Vor- und Nachteile haben.

Welche Nachteile hat es, das Original anzusehen?

Man kann – jedenfalls in der Ausstellung – aufgrund restauratorischer Vorgaben nicht in den wertvollen alten Büchern blättern. Die sind an einer Seite aufgeschlagen und liegen so in der Vitrine. Da die Restauratoren die Bücher aber komplett durchfotografiert haben, kann man digital jede einzelne Seite betrachten. Genau das bieten wir auf der Website „bookmarks2009.de“ an. Außerdem bieten wir auf YouTube Tours die Chance, einerseits ausgewählte Führungen durch YouTube nachzuvollziehen, andererseits selbst Führungen anzubieten. Was für ein Ausstellungshaus wie uns ungewöhnlich ist: Wir haben nicht gesagt, dass der Kurator der alleinige Autor der Schau ist oder die Referenten unseres Begleitprogramms die einzigen Experten. Sondern wir öffnen den Raum für eine Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen. Schauen und Staunen sind erlaubt und erwünscht.

Trotzdem scheint es, als hätten Sie nicht gewagt, eine Schau über alte Bücher zu machen und sich deshalb YouTube angedient.

Das mag so scheinen, aber die Vorgeschichte der Schau ist anders: Einerseits wurde uns Kuratoren bewusst, dass wir mit dem Phänomen YouTube eine gewaltige Umwälzung miterleben. Dort werden an jedem einzelnen Tag 200.000 Videos hochgeladen. Pro Minute bedeutet das Material für 13 Stunden. Andererseits ist auffällig, dass sich etablierte Medien wie die ARD bei YouTube anbiedern. Und zwar nicht deshalb, weil das so schick ist, sondern weil sie ein Zielgruppenproblem haben: die Generation der zehn- bis 25-Jährigen, die nicht mehr Fernsehen schauen, sondern all ihre Filme auf YouTube konsumieren. Das kann man als Untergang des Abendlandes bezeichnen nach dem Motto: Die Jugend von heute ist extrem selektiv, stimmt quasi mit den Füßen ab und will nur noch schlechte Filme gucken. Ich glaube aber nicht, dass das stimmt. Ich vermute vielmehr, dass junge Menschen auf YouTube eine Kulturpraxis trainieren, die sie später im Beruf anwenden werden. Denn die Frage ist doch: Was passiert, wenn die, die jetzt ihre Quatsch-Videos auf YouTube austauschen, irgendwann mit seriösen Inhalten umgehen? Sie werden dann anwenden, was sie derzeit üben: Wie orientiere ich mich im Internet? Wie sortiere ich Inhalte? Wer kann das tun – und was bedeutet es, dass plötzlich jeder zum Autor werden kann? Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn schlaue Firmen Videos produzieren, die so viele Klicks bekommen, dass sie so oft angeschaut, kopiert, nachgeahmt und verändert werden, dass sie, x-fach weitergegeben, als Werbeträger fungieren können – und so massiv Werbekosten sparen helfen? Die Frage nach der Rezeption lässt sich übrigens auch auf unsere „Schatzkammer“-Exponate rückkoppeln: Was ist eine Keilschrift anderes als ein Wissensspeicher? Und wer kann das schreiben, wer rezipieren? Welche Realitäten bildet der Text ab: Welche Bedeutung hat es, wenn ein König aus Assyrien seinen Leuten daheim mittelt, dass der Krieg wunderbar läuft, er aber noch ein paar 100 Mann braucht, um die Schlacht zu gewinnen? Das ist – wie im Internet – die Übertragung von Wissen zu einem bestimmten Zweck. Nur, dass das Internet ein Versprechen einlöst, das bislang alle Medienrevolutionen gaben: das Wissen zu demokratisieren.

Wer lehrt denn in der demokratischen YouTube-Community das Sortieren von Inhalten?

Das ist die entscheidende Frage: Wer kontrolliert – und wer zivilisiert das Ganze? Die Autorin Juli Zeh hat einmal gesagt: Wenn sie das Internet betrachtet, hat sie das Gefühl, dass es sich auf der Entwicklungsstufe des Neandertalers aufhält: Dinge werden ausprobiert, es geht um Wachstum und Superlative: Wer ist schneller, besser, weiter – und alles wird daran gemessen, wie viele Zugriffe es gab. Da wollen wir – auch mit unserer Ausstellung – die Leute natürlich schon dazu bringen, gewisse Schwerpunkte zu setzen.

Sie wollen die Community also zivilisieren...

Ich will gar nichts zivilisieren, das steht mir auch nicht zu. Ich beobachte nur, dass derzeit eine Generation aufwächst, die gewohnt ist, Inhalte sofort parat zu haben und sofort zu reagieren. Diese Leute erwarten, dass Inhalte immer auf vielen Ebenen abgerufen werden können. Es könnte also sein, dass diese Menschen in fünf oder zehn Jahren ganz andere Ausstellungen sehen wollen, als wir heute anbieten: Ausstellungen, auf die man auf mehreren Ebenen zugreifen kann und die auf andere Art vermittelt werden. Wie die aussehen könnten, weiß ich noch nicht. Aber als Institution, die sich um die Vermittlung ästhetische Potentiale kümmert, müssen wir uns dieses Phänomens annehmen.

Dann wäre diese Ausstellung realer Bücher die letzte ihrer Art – ein Abgesang sozusagen?

Nein, gar nicht. Wir wollen im Gegenteil vermitteln, dass es ein riesiges Vergnügen bereitet, die alten Originale anzuschauen. Sich zu überlegen, was Leibniz dachte, als er seine Rechenmaschine bauen ließ. Was es bedeutet, dass ein Universalgelehrter die Rechenleistung an eine Maschine delegiert und sagt, ein Mann von Welt solle vermeiden, im Kopf zu rechnen. Das könnten Maschinen tun. Das Original in der Ausstellung bietet dabei dreierlei: Es ist ein ästhetische Objekt, speichert Wissen und drückt eine Geisteshaltung aus. Dasselbe passiert auf YouTube. Abgesehen davon sind Bibliotheksdirektoren nicht so konservativ, wie man vielleicht denkt. Die meisten sind sehr froh über die Digitalisierung ihrer Schätze: So kann endlich zugänglich gemacht werden, was normalerweise im Tresor schlummert. Die Leibniz-Bibliothek etwa hat keine Räume, um ihre Schätze zu zeigen und war daher sehr froh über die Kooperation.

Sie hoffen also, dass YouTube Ihre Exponate letztlich auch bewirbt.

Wenn man es so sehen will – ja, natürlich.

Welche Wendepunkte der Wissensvermittlung illustrieren die Exponate der Leibniz-Bibliothek?

Neben der erwähnten Rechenmaschine wäre das Teleskop zu nennen, das – zeitgleich mit dem Mikroskop – den Zugriff auf ein Wissen erlaubte, der zuvor nicht möglich war. Wichtige Station ist natürlich auch die Erfindung des Buchdrucks, den wir anhand verschiedener Bibeln illustrieren. Dies war der wohl bekannteste Paradigmenwechsel, der dazu führte, dass wesentlich mehr Menschen Anteil nehmen und sich äußern konnten. Auch markant: die 1729 erstellte Karte des nördlichen Sibirien, die Berings erste Kamschatka-Expedition nachzeichnete. Sie steht für das Interesse, diese Gegend urbar zu machen. Und schließlich: Leibniz‘ Neujahrsbrief von 1697, in dem er Herzog Rudolph August den Binärcode erklärt. Es ist der bekannteste Brief zum binären Code, auf dem ja letztlich der Computer beruht. Leibniz beschreibt den Code nicht nur, sondern er zeichnet ihn auch auf: Da kann man sehr viele Nullen und Einsen zählen.

Wenn man diese gelehrten Schriften mit YouTube vergleicht: Leidet die Qualität der Wissensvermittlung nicht unter der Demokratisierung?

Möglich. Aber wir haben YouTube nicht wegen der Inhalte gewählt, sondern weil uns die Form der Wissensvermittlung und deren Konsequenzen interessieren.

YouTube lebt ja von Inhalten, die die Nutzer erstellen. Können die als „Wissen“ gelten?

Das ist die entscheidende Frage: Wer autorisiert Wissen. Derzeit entscheidet die Usergemeinde, was sie als Wissen akzeptiert und was nicht.

Die Ausstellung ist bis 15. 2. in der Hannoverschen Kestnergesellschaft zu sehen.

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