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Alles drin im Punktheater

Unbeherrscht und verbalradikal: Schorsch Kamerun jetzt im Prater-Sonderangebot. „The GoldenAge Of Punk And Working“– eine Recherche aus Niedriglohnparadiesen und Centermanagement

VON ANDREAS BECKER

Das Mädchen auf dem Fahrrad überholte das Polizeimotorrad, raste kurz hinter einer Straßenbahn über den Rosenthaler Platz – leider bei Rot. Der Polizist rief hinter ihr her, nahm die Verfolgung auf und stellte sie an der nächsten Haltestelle. „Ich muss ganz schnell zur Premiere von Schorsch Kameruns ‚The Golden Age Of Punk And Working‘ – da hab ich die Ampel übersehen.“ – „Na, dit is ja ne Ausrede …“

Die junge Dame mit dem anarchischen Potenzial war leider nicht repräsentativ für das Publikum am Mittwoch – die Praterbude mit dem implantierten Bert-Neumann-100-Mann-Zelt war nicht mal ausverkauft. Warum gilt dieser merkwürdige Verein von Leuten in grellen Pseudosportklamotten, die garantiert im Weg stehen, wenn man Bier holen will, eigentlich immer noch als cool?

Goldene-Zitronen-Mann Schorsch Kamerun jedenfalls hatte nach dem ersten Durchlauf seines Stücks bei den Recklinghäuser Ruhrfestspielen sicher mehr Funkyness erwartet in Berlin. Dort im gewerkschaftlichen Betonkasten einer Kleinstadt kaum beachtet zu werden war sicher schon ein wenig traurig, aber erwartbar. In Berlin konnte der Hamburger, an seiner Seite Elena Lange von der Band Stella (vorgestellt als osteuropäische Schwarzarbeiterin), Sepp Bierbichler und ein Ensemble fünf älterer Herren (Exbergleute) aus Katowice, eigentlich ein Heimspiel erwarten. Aber weit und breit keine Hardcore-Zitronenfans. So verpuffen Diskurspop-Einlagen wie eine stakkatohafte Coverversion von Blumfelds „Diktatur der Angepassten“, frühe Fehlfarben-, Stella- und Zitronenverwurstungen weitgehend. Ja klar: „Wir leben im Computerstaat.“ Hübsch anzusehen und lustig kapitalismuskritisch das Recycling des RePoPa (Recklinghausen Polsi Park) als BePoPa (Berlin Polski …). Die Kürzel, mit der Unterzeile „futuring Tomorrow“ an zwei Videowände neben der Band gebeamt, spielen auf die nervtötenden Namen von Rieseneinkaufscentern an wie dem Oberhausener Centro – eine der größten europäischen Happy-Shopping-Malls, gebaut auf einem ehemaligen Zechengelände. Vom Bergarbeiter wurden die Leute umgeschult zum ewig lächelnden rot-weißen Kellner der Coca-Cola-Oase.

Im Vorfeld der Ruhrfestspiele recherchierte Kamerun hier das Konsumverhalten in der Postproduktionsgesellschaft. Natürlich war er schwer geschockt, drehte gleich noch ein Video im Centro, in dem er einen debilen TV-Reporter darstellt. Das doofe „Forum Neukölln“ wurde unlängst übrigens zu „Arcaden“ aufgewertet – als kaputte Reminiszenz an den Ort des Prollelends singt das Ensemble den abgewandelten Zitronensong „Die Menschen aus Neu-Köl(l)n“. Auf der Bühne gibt Kamerun den agilen Centermanager Thomas Seel (angeblich auch sein wahrer Name), predigt, singt oder besser bellt Parolen wie „Hochofen, Hochofen! Rolltreppe, Rolltreppe!“ Reimt ehrlich auf gefährlich, eröffnet in der linken Bühnenhälfte den Fun Beach Park (Kampfansage auch an den Berliner Trend zur Beachifizierung durch Versandung der Verhältnisse bei Bundespressestrand, Spreebaden an der Arena, Strandbad Mitte Cocktail Terror), ist plötzlich schon wieder im Paralleluniversum Video zu sehen, wie er die polnische Partnerstadt von Recklinghausen und dem US-Ort Butte-Silver Bow anpreist als Niedriglohnparadies.

Oh Spätkapitalismus, was bist du schwer zu fassen und zu bekämpfen. Globalisierung und EU-Osterweiterung finden bei Kamerun ironische Wiederkehr in der Beschäftigung der Billigmusiker des polnischen Straßenorchesters mit dem authentischen Namen „Drei Opfer des Weges nach Europa“. Alles drin im bunten Warenkorb Punktheater. Plötzlich hüpft Kamerun sexy verkleidet als maskierte Techno Hornisse in Europafahne durchs Bild. Dann dreht er schon live ein Video als Kontaktanzeige, kontrastiert von einer kochenden Billigrussin als Kauf(ehe)frau und Nutte.

Das goldene Zeitalter des Punk in seiner technischen Reproduzierbarkeit als Theaterlohnarbeit oder lieber angestellt bei Castorf, als Spaßpunkclown im Centro. Das lädt zu einem gemeinen Leistungsvergleich ein: Kamerun, heute im Sonderangebot unbeherrschter, verbalradikaler, greller, multimedialer und unangestrengter als Pollesch und frischer als Schlinge.

Bis 13. Juni im Prater, 20 Uhr

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