: Sanfte Wassergesellin
Während die Masurischen Seen im Sommer gut besucht sind, ist die Suwalszczyzna im Dreiländereck Polen, Litauen und Weißrussland noch weitgehend unentdeckt. Auf 100 Kilometern führt die Czarna-Hańcza-Paddelroute durch einsame Wälder
VON KRISTINE JAATH
Im Sommer gibt der Himmel über dem nordöstlichsten Winkel von Polen sein großartiges Wolkentheater zum Besten. Über den Kirchtürmen des Kamaldulenserklosters am Wigry-See türmen sich vor tiefem Blau plötzlich schwarze Wolkengebirge auf, durch die abertausende Sonnenstrahlen hindurchbrechen und den See in ein türkisfarbenes Funkeln tauchen. Ende des 17. Jahrhunderts ließen sich Kamaldulensermönche in der gottvergessenen Gegend inmitten von Sümpfen, Wäldern und Seen nieder, machten sie urbar, bauten ihr Kloster und legten am Flüsschen Czarna Hańcza den Weiler Suwałki an; damals ganze zwei Holzhütten klein und heute mit knapp 70.000 Einwohnern die „Megalopolis“ der Suwalszczyzna, eines ansonsten spärlich besiedelten Flickenteppichs aus Wasser und Land.
Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden dort die 42 schönsten Gewässer zum Wigry-Nationalpark zusammengefasst; mit dem weit ausgreifenden, von zahlreichen Inseln geschmückten Wigry-See als Perle im Zentrum. Es herrscht eine unendliche Stille über dem Land. Fast könnte man meinen, allein auf der Welt zu sein – gäbe es bei Stary Folwark am nördlichen Seeufer nicht die Wasserstation der Polnischen Gesellschaft für Touristik und Heimatkunde (PTTK): Versorgungsstelle, Kanu- und Kajakverleih, Zeltplatz und Jugendherberge und zusammen mit Bryzgiel am Südufer der Einstieg in die Czarna-Hańcza-Paddelroute.
Rund hundert Wasserkilometer lang ist die Tour vom Wigry-See über die Czarna Hańcza und den Augustów-Kanal bis zum Städtchen Augustów und lässt sich selbst für Ungeübte in fünf bis acht Tagen ohne Schwierigkeiten bewältigen. Zumal sich die Czarna Hańcza als eine sanfte Wandergesellin erweist. Oft kaum mehr als hüfttief, mäandert sie gemächlich zunächst durch meterhohe Schilfgürtel, an Biberburgen, Nistplätzen von Haubentauchern und Höckerschwänen vorbei, und wird bald darauf von der Puszcza Augustowska verschluckt.
Fortan geht es durch das mit 1.100 Quadratkilometern größte geschlossene Waldgebiet Polens. Wölfe und Luchse durchstreifen die Kiefernmischwälder, Seeadler kreisen über den Baumkronen, gelegentlich wandert sogar ein Elch aus dem Baltikum ein. Umhüllt von Kiefernharzduft, gleitet das Kajak durch grüne Baumtunnel, begleitet vom Summen der Libellen und einem vielstimmigen Vogelkonzert. Nicht zu vergessen das Klappern der Störche, denen die Sümpfe und Feuchtwiesen hier die reichste Tafel Europas bestellen.
Bei aller Abgeschiedenheit ist man jedoch nie vollends von der Zivilisation abgeschnitten. Immer wieder weisen Schilder am Ufer den Weg zum nächsten Dörfchen mit Tante-Emma-Laden und obligatorischer „Mała Gastronomia“ (Imbissbude). Darüber hinaus unterhält die PTTK auf der gesamten Strecke Versorgungsstationen, auf deren Gelände man campen oder gelegentlich auch eine Hütte anmieten kann. Doch sind die Plätze meist gut frequentiert, und ohnehin ist es lauschiger, auf einem der zahlreichen Biwaks sein Zelt aufzuschlagen. Für ein paar Złoty Entgelt werden sie von Förstereien und mehr noch von Bauern auf ihren Privatgrundstücken betrieben. Schildchen mit „Pole namiotowe“ (Zeltplatz), irgendwo im Schilf eingepflockt, zeigen den Paddelweg zu den idyllischen Flecken. Wobei das Spektrum an Sanitäranlagen von Warmwasser, Dusche und hier und da sogar Dampfsauna bis hin zu Plumpsklo und selbst gebasteltem Brausebad reicht.
Am Abend Lagerfeuerromantik: Ein fangfrischer Fisch in der Pfanne gebrutzelt, umkreist von einer Schar bettelnder Schwäne; Frühstück auf dem Bootssteg unter der gleißenden Sonne, die bereits morgens um sieben tüchtig aufs Zelt brennt. Danach zur Erfrischung ein Sprung in das glasklare Flüsschen, bevor die Fahrt weitergeht. Durch einen grünen Teppich von Schlingpflanzen ihrem schönsten, aber auch anspruchvollsten Abschnitt entgegen. Wenige Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt beginnt die Czarna Hańcza auf einmal zu wirbeln. Das von Tannen und Eichen gesäumte Ufer wird steiler, gelegentlich blockieren umgestürzte Bäume den Weg, unter denen man gerade so hindurchpaddeln kann.
So zieht der Fluss seinem Rendezvous mit dem Augustów-Kanal entgegen. Nach etwa 60 Kilometern heißt es beim Örtchen Rygol Abschied nehmen; die Czarna Hańcza wird weiter nach Weißrussland fließen und sich dort mit der Memel verbinden, während die Paddler nach Westen in den Kanal einbiegen. 1824 begann man mit dem Bau der künstlichen Wasserstraße, die mit 18 Schleusen auf 102 Kilometer, im Wechsel mit kleinen Flüssen, insgesamt 26 Seen verknüpft. Damals gefeiert als Meisterleistung der Ingenieurbaukunst, da sie einen durchgehend schiffbaren Wasserweg von der Memel bis zur Weichsel nach Warschau schuf, dient der Augustów-Kanal zur Freude der Wassersportler heute einzig noch dem Paddelvergnügen. Verkrautet und eingewachsen wartet er gegenwärtig darauf, dass die Unesco seine altertümlichen, handbetriebenen Schleusen zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt.
Sieben von ihnen werden auf dem Weg nach Augustów passiert. Zunehmend kündigen Ausflugsdampfer die Nähe des Kurorts an. Surfer, Segel- und Motorboote kreuzen über die Seen, die das 30.000-Einwohner-Städtchen umgeben, und mit Kurs auf das örtliche PTTK-Segelsportzentrum ist der Endpunkt der Czarna-Hańcza-Route erreicht. Nach aller Ursprünglichkeit in den vergangenen stillen Paddeltagen zurück in der Zivilisation angelangt, kann man sich dort auf dem Necko-See nun einem Wasserwanderprogramm gänzlich progressiver Natur hingeben: dem Slalom Racing und Figure Skiing mit dem 1999 mitten in den einsamen Wäldern und Seen der Suwalszczyzna aus der Taufe gehobenen ersten und einzigen Wasserskilift in Polen.
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