: Gestalten statt abschaffen
Das internationale Verbot von Kinderarbeit beruhigt das Gewissen der Europäer – den Kindern hingegen schadet es. Sie brauchen die Möglichkeit, ihre Interessen zu vertreten
Der „Welttag gegen Kinderarbeit“ ist am Sonnabend friedlich vorübergezogen. Stolz vermeldete die Internationale Arbeitsorganisation IAO, dass weitere Länder die entsprechenden Abkommen unterzeichnet haben. Doch trotz der überwältigenden Zustimmung zum Verbot von Kinderarbeit – die beiden Resolutionen wurden bisher von 134 beziehungsweise 150 Staaten ratifiziert – entwickelt sich die Wirklichkeit in die entgegengesetzte Richtung. Zwar fehlen Statistiken aus der Vergangenheit. Aber alle Experten sind sich einig, dass Kinderarbeit seit den Siebzigerjahren enorm zugenommen hat.
Die meisten Kinderarbeiter leben in Asien; dort arbeitet etwa ein Fünftel der Kinder unter 15 Jahren. In Lateinamerika ist jedes sechste und im südlichen Afrika sogar fast jedes dritte Kind betroffen. Doch auch in Industrieländern gibt es Kinderarbeit. Human Rights Watch geht davon aus, dass in den Vereinigten Staaten etwa 300.000 Töchter und Söhne mexikanischer Einwanderer auf Farmen ackern.
Längst ist erwiesen, dass den betroffenen Mädchen und Jungen ein Verbot der Kinderarbeit wenig nützt – und häufig sogar schadet. So zahlen viele mittelamerikanische Landarbeiterkinder die Rechnung für das offizielle Arbeitsverbot mit knurrendem Magen: Weil sie nicht mehr auf den Lohnlisten auftauchen, enthalten ihnen die Plantagenbesitzer straflos das Mittagessen vor. Und sitzen deshalb noch lange nicht im Klassenzimmer.
Auch drangsalieren vielerorts erwachsene Händler ihre jungen Konkurrenten, ohne dass diese von staatlicher Seite Hilfe erwarten können. Im Gegenteil: Oft müssen die Kinder auch noch die Polizei fürchten. Und: Was ist überhaupt aus den jungen philippinischen Fischereihelfern geworden, die mit Hilfe eines IAO-Projekts erfolgreich vor Kinderarbeit gerettet wurden, wie dem Jahresbericht des Generaldirektors zu entnehmen ist?
Viel sinnvoller als die Kinder in die Illegalität zu drängen ist es, ihre Rechte zu stärken und sie dabei zu unterstützen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Eine Grundvoraussetzung dafür wäre allerdings, sie nicht einfach als Objekte einer – häufig hilflosen – Fürsorge zu betrachten, sondern selbst zu Wort kommen zu lassen. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989 könnte dafür die Grundlage bilden: Sie gesteht Kindern Mitsprache bei den sie betreffenden Entscheidungen zu.
Tatsächlich gibt es inzwischen in mehreren Dutzend Ländern Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher, die sich gewerkschaftsähnlich organisiert haben. Sie helfen sich nicht nur gegenseitig bei Alltagsproblemen, sondern versuchen auch, bessere Jobbedingungen zu erreichen. Außerdem wollen sie Bildungschancen für alle durchsetzen. Deshalb fordern sie Unterricht, der auf Kinder-Arbeitszeiten Rücksicht nimmt. An mehreren Orten der Welt gibt es mittlerweile solche Flexi-Schulen.
Auf der gegenwärtig in Genf tagenden IAO-Jahrestagung aber spielen diese Erfahrungen keine Rolle. Wie immer sind dort erwachsene Vertreter von Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden unter sich. Sie allein entscheiden, was das Beste für die Kinder vor allem aus Entwicklungsländern ist; im IAO-Verwaltungsrat beraten sogar nur Leute aus reichen Industrieländern über solche Fragen. Für sie ist klar: Unter 15-Jährige sollen spielen und büffeln – und sonst gar nichts. Dass manche Jungen und Mädchen nur deshalb eine Schule besuchen können, weil sie arbeiten, kommt in diesem Konzept nicht vor.
Erst im vergangenen Dezember hatte die IAO vorgerechnet: Wenn alle Kinder statt zum Schuften lernen gingen, überstiege der wirtschaftliche Nutzen die Kosten innerhalb von 20 Jahren um den Faktor 6,7. Gut möglich. Doch die Einsicht, dass gebildete Menschen volkswirtschaftlich Sinn machen, ist auch in vielen Drittweltländern längst angekommen; woran es vor allem mangelt, ist das nötige Geld. So geht die Hilfsorganisation Terres des Hommes davon aus, dass allein in Indien 100.000 Grundschulen fehlen – und das, obwohl das Recht auf Grundbildung in der Verfassung der größten Demokratie festgeschrieben ist. Die IAO aber hat keine Mittel für entsprechende Programme. Sie verweist die Länder auf die eigene Verantwortung – und auf andere internationale Institutionen wie Weltbank oder EU.
Zwar gestehen IAO-Mitarbeiter im informellen Gespräch durchaus ein, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Kindern wünschenswert wäre – allerdings nur in einer Übergangsphase bis zu ihrer endgültigen Abschaffung. Wohl auch um nicht in einen strategischen Widerspruch zu geraten – zu verbessern, was man ja eigentlich abschaffen will –, fixiert sich die Organisation seit einigen Jahren auf das, was sie als „schlimmste Formen der Kinderarbeit“ bezeichnet: Sklaverei und Schuldknechtschaft, Menschenhandel, Prostitution und Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten. Betroffen von solchen Verbrechen sind etwa 8,4 Millionen Kinder. In Bergwerken und Steinbrüchen malochen schätzungsweise 1,9 Millionen Minderjährige. Schätzungsweise 10 Millionen Kinder arbeiten zudem in sklavenähnlichen Verhältnissen in Privathaushalten.
Doch die große Masse der über 210 Millionen Jungen und Mädchen schuftet zu niedrigen Löhnen oder völlig ohne Bezahlung in mehr oder weniger miesen Jobs. Unterstützung für kürzere Arbeitszeiten und die Chance, neben der Arbeit lesen und schreiben zu lernen, würden ihnen wesentlich mehr nützen als ein wohlfeiles Arbeitsverbot.
Der fromme, aber nicht finanzierte Wunsch, alle Kids ausschließlich zur Schule zu schicken, dient so vor allem dazu, das Gewissen europäischer Mittelstandsbürger zu beruhigen. Auch ein Boykott von Waren, in denen Kinderarbeit steckt, ist nicht die Lösung des Problems, warnt Terres des Hommes. Viele internationale Firmen und ihre Zulieferer haben die Minderjährigen in den vergangenen Jahren rausgesetzt aus Angst vor Konsumentenprotesten; nur etwa 10 Prozent der Kinder stellen heute noch Produkte für den Export her. Hilfreich für die Betroffenen ist ein Boykott also nur dann, wenn sie eine Einkommensalternative haben – etwa durch einen höheren Verdienst ihrer Eltern aus dem fairen Handel. Dafür müssten die Verbraucher in den Industrieländern allerdings bereit sein, ihre Maxime vom geilen Geiz hinten anzustellen.
Aber die Bedingungen des Weltmarkts schlagen längst auch auf viele heimischen Sektoren durch – was die Quote der Kinderarbeiter erhöht. So drängen zum Beispiel immer mehr Landbewohner in die Städte, weil die Erlöse aus dem Kaffeeanbau sie nicht mehr ernähren. Dort angekommen, versuchen Kinder und Erwachsene gleichermaßen, einen der raren Jobs zu ergattern oder sie vergrößern das Heer der fliegenden Händler. Der Einzelne verdient und verkauft immer weniger – und arbeitet immer länger. Ein Teufelskreis. Dagegen setzt die IAO ihre Position: Die Globalisierung an sich ist eine große Chance; sie darf nur nicht zu Lasten der Schwachen gehen. Ach was. ANNETTE JENSEN
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