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aufgewecktKlavier gegen Kapitalismus

7.30 Uhr, Montagmorgen, Bahnsteig der U 2 am Alex. Verschlafenes Gewusel zwischen Backshop und Bahnsteigkante. Zur Arbeit Pendelnde kaufen ihre Zeitung und das Baguette mit Ei. Offenes Gähnen, Kaffeegeschlürfe, Warten auf das Rattern der nächsten U-Bahn in fünf Minuten. So weit, so alltäglich.

Dann allerdings wuchten zwei Dunkelgekleidete einen schwarzen Konzertflügel die Treppe herunter. Hochkant tragen sie das Instrument auf den grauen Bahnsteig, stellen es vor dem Backshop ab. Skeptisches Glotzen der Pendler. Ein junger Mann im schwarzen Anzug, mit schlanker Krawatte und Dreitagebart setzt sich auf den Klavierhocker und schlägt die Noten auf. Bach, Präludium. Zarte Arpeggien, perlende Töne. Die Leute glotzen noch mehr, scharen sich in sicherer Distanz um das Klavier, ziemlich viele kramen ihre Fotohandys aus der Tasche. Bach in aller Herrgottsfrühe am U-Bahnhof – das gibt’s schließlich nicht alle Tage.

„Bingo“, wird Marco Wedel später erklären. Genau das habe er gewollt. Irritieren, einen Kontrapunkt setzen gegen den allmorgendlichen Arbeitstrott. Gegen die Logik vom Malochen um des Malochens willen. Der 25-Jährige ist Politikstudent an der Freien Universität und selbst ernannter Künstler. Die Piano-Performance ist seine Art der Kapitalismuskritik. Öffentlichkeitswirksam, dort, wo es die Menschen zur Arbeit treibt.

Warum gingen die Leute zu Jobs, die sie anöden, ärgert sich Wedel. Warum müsse alles nach ökonomischer Ratio funktionieren? „Gerade jetzt, in Zeiten der Finanzkrise, soll der Bürger wieder nur als Konsumvieh für neues Wirtschaftswachstum herhalten“, nörgelt der junge Mann. Man solle sich vielmehr öfter einfach ausklinken und machen, was einem wirklich Freude bereitet. Klavierspielen zum Beispiel. Er wolle da nicht pädagogisch sein, aber wenn auch nur ein paar Leute durch seine Aktion ins Grübeln gekommen seien, das wär ja schon was.

Immerhin: Die Zuhörer ziehen die Stirn in Runzeln oder lächeln überrascht, bevor sie in ihre Bahn steigen. Zwei Damen applaudieren. Eine gute halbe Stunde spielt Marco Wedel noch Schubert und Jazzimprovisationen. Dann klappt er seine Noten zu und verschwindet die Treppe hinunter.

Demnächst will er mit dem Flügel dem Profitschaffen andernorts wieder auf die Pelle rücken: im Arbeitsamt, in einer Fabrik, bei der Börse. Vielleicht kann er wirklich etwas bewegen. Schließlich wusste schon der gute alte Marx, dass Musik Revolutionen nicht schlecht bekommt – solange man nur die „versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingt, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt“. KONRAD LITSCHKO

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