: Musik mal ohne Schlips
Mit einem rein britischen Programm beweist das Arditti Quartett in Hamburg, dass es unabhängig von der Kleiderordnung Weltmeister der gegenwärtigen Kammermusik ist
Es lag nicht nur an der Sommerhitze, wenn am Sonntagabend beim Konzert des Arditti Quartetts im NDR-Studio in der Hamburger Oberstraße an keinem Hals eine Krawatte hing. Es lag auch daran, dass immer noch nur ein kleiner Zirkel Eingeweihter und zur Anpassung offenbar Unfähiger kommt, wenn das weltbeste Streichquartett für Gegenwartsmusik Hamburg beehrt.
Das Avantgardistische am Arditti Quartett besteht, über die klassische Kleiderordnung hinaus, im Repertoire und in der raffiniert selbstverständlichen Art, wie das Ensemble es anfasst. An diesem Abend, zu gleichen Teilen vom Schleswig Holstein Festival und vom „neuen werk“ des NDR veranstaltet, gab es, entsprechend des Programmschwerpunkts des Schleswig-Holstein Musik Festivals, ausschließlich britische Musik.
Vor der Pause richtete sich dabei der Blick auf vertraut Vergangenes. In Thomas Adés (geb. 1971) Frühwerk Arcadiana op. 12 war das – zart und auf kleinstem Raum strukturiert und mit viel Dämpfer, Glissandi und Pizzikati versehen – Venedigs Aura, die neben Reminiszenzen an Zauberflöte und Schubertlieder aus fein zieselierten Pianissimo-Nebeln auftauchte. Dynamisch und klanglich konsistenter die folgenden Anklänge an Tango, Brahms und Quinten – alles aus dem Heute gehört, originell, kunstvoll und frisch.
Was ebenso für Brittens 3. Streichquartett op. 94 gilt, obschon dieses, als die letzte größere Komposition des britischen Klassikers der Moderne, im lastenden Ruf eines musikalischen Testaments steht. Ausgehend von einem Feld aus elf Tönen, richtet es sich, über viele „schöne“ Stellen, die sich Vorgängern wie Mahler, Berg oder Schostakowitsch verdanken, zusehends in Regionen ein, die an gewohnte Tonalität erinnern. Abgelutscht wirken diese Passagen dabei nie.
Statt auf die Herkunft aus der Tradition mehr auf sich selbst bezogen waren nach der Pause sowohl Jonathan Harveys (geb. 1939), als auch Brian Ferneyhoughs (geb. 1943) drittes Streichquartett. Beide Stücke sind, wie weit mehr als hundert Werke anderer Komponisten, fürs Arditti Quartett geschrieben: Töne, Klänge und Geräusche, die sich verdichten und auffächern, in immer neuen Anläufen ver- und entwirren, sich zu akkordähnlichen Passagen schichten oder in motivartigen Reihen vereinzeln. Man weiß nie, was als Nächstes kommt. Knapp zwei Konzertstunden sind im Nu vorbei. Ein unendlich gelassen freundlicher Irvine Arditti verneigt sich, die Geige locker schwingend, mit schrägem Kopf.
Stefan Siegert
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