: „Träum von den Cowboys“
aus Schleusingen und Gotha SANDRA LÖHR
Die Frau tanzt mit geschlossenen Augen im Nieselregen. Sie trägt eine Kapuzenjacke mit Stars-and-Stripes-Aufnähern und zählt leise den Dreivierteltakt mit, den die Musiker auf der Bühne vorgeben. Der leichte Regen stört sie nicht, eben sowenig wie all die anderen, die an diesem Wochenende hierher gekommen sind und die jetzt, auf der weiten Rasenfläche verteilt, der Band zuhören. Es tröpfelt ins Bier, und die Zelte werden auch nass, aber das macht nichts. Denn die Menschen, die hierher kommen, zum größten Country-Festival in Ostdeutschland, wollen sich nicht nur amüsieren, sondern einen Lebensstil zeigen. Einen, den sie mit amerikanischer Freiheit und Unbekümmertheit verbinden und der nichts zu tun hat mit bundesdeutschen Reihenhausratenzahlungen und Arbeitsamtsanträgen.
Da ist es auch egal, dass die Kulisse keine Prärien sind, sondern Nadelwälder und Fachwerkhäuser, hier in Schleusingen im Thüringer Wald. Die Country-Anhänger fahren auf den großen Zeltplatz, bauen dort ihre Zelte und Campingwagen auf und stecken die Südstaatenflagge an ihr Auto. Sie haben große Cowboyhüte auf den Köpfen, von denen Fuchsschwänze baumeln, und tragen dazu schwere Stiefel mit Sporen und Lederhosen mit Fransen, als gelte es, im nächsten Augenblick eine Rinderherde nach Erfurt zu treiben. Sie kaufen sich Spareribs und ihren Kindern kleine, aus Leder geschneiderte Westen, 45 Euro das Stück, und abends sitzen sie zusammen am Lagerfeuer oder gehen in den „weltweit einzigen fahrbaren“ Saloon, gleich hinter dem Haupteingang. Gäbe es neben dem Whiskey nicht auch noch Dingslebener Edel-Pils zu trinken und hörte man nicht immer wieder das Wort „Gandrie“, man könnte tatsächlich den Eindruck bekommen, sich in den Vereinigten Staaten zu befinden.
Frank Fischer, 41, und Thomas Hahn, 37, veranstalten das Festival seit 16 Jahren. In den letzten Jahren kamen bis zu 20.000 Besucher, trotz aller Schwierigkeiten in der Musikbranche liegen die Umsätze von „Country & Western“ konstant bei 1,3 Prozent, was besonders den ostdeutschen Fans zuzuschreiben ist, die der Branche nach der Wende einen Boom beschert haben. Der Erfolg, sagt Fischer, liege daran, dass Country vor allem im Osten mehr als nur Musik sei. „Das ist eine Lebenseinstellung.“
Frank Fischer und Thomas Hahn haben das erste Festival 1988 in einem Jugendclub organisiert. Damals ließen sie Plakate drucken und in der ganzen DDR aufhängen, auf denen stand: „Schleusingen: die wildeste Stadt im Süden“. Die Staatssicherheit fand das nicht witzig, ließ die meisten Festivalplakate wieder abreißen und informierte die beiden darüber, dass es in der Deutschen Demokratischen Republik so etwas wie „wilde Städte“ nicht gebe. Aber dagegen, dass es zu diesem Zeitpunkt schon viele Staatsbürger gab, die von der Musik und dem Mythos der Cowboys begeistert waren, konnte der Geheimdienst nichts machen.
Dennoch musste sich die Szene Anfang der Achtzigerjahre noch als „Arbeitsgemeinschaft Indianistik“ tarnen, um für ihre Vereinstreffen eine Genehmigung des Kulturbunds der DDR zu bekommen. Damals war nur die Beschäftigung mit den einstigen Opfern des Klassenfeindes erlaubt und erwünscht, aber in den Zirkeln, die sich vordergründig ethnologisch mit den Ureinwohnern Amerikas beschäftigten, fanden sich bald immer mehr Westernfans zusammen. Die Countryszene konzentrierte sich dabei besonders im Raum Gotha, das auch „Nashville des Ostens“ genannt wurde. Hier gründeten sich die ersten offiziellen Country-Clubs, der „Bell City Country Club“ aus Apolda oder „Green Mountain Country Club“ aus Zella-Mehlis. Und hier spielten die ersten Gruppen, als in den späten Achtzigerjahren die Zensur gelockert und die Musik zum ersten Mal offiziell auf der Bühne erlaubt wurde.
Man sollte meinen, dass die alten Fans aus der DDR nun alle versammelt sind in Schleusingen, wo gleich sieben Bands drei Tage lang auftreten. Aber Manfred Loman ist nicht gekommen. Obwohl er so etwas wie die graue Eminenz der ostdeutschen Countryszene ist und obwohl er nur eine knappe Autostunde von Schleusingen entfernt lebt. Man kann den 65-Jährigen besuchen in einem Dorf bei Gotha, in seinem Haus mit dem weißen Büffelkopf an der Tür und den Haltestangen für Pferdeleinen. Und wenn man ihn dann fragt, warum er keine Lust mehr hat auf das große Festival mit den sieben Bands, dann sagt er nur: „Eigentlich hat das alles nur noch sehr wenig mit dem zu tun, was ich an der Countrymusik mag. Aber vielleicht bin ich auch einfach zu alt geworden.“ Mehr sagt er nicht.
Im Innenhof seines Hauses hat sich Loman eine kleine Werkstatt eingerichtet. Hier fertigte er in den Achtzigerjahren in Handarbeit Westernsättel, Gitarrenschlaufen, Gürtel und Hüte für die real existierenden Cowboys, später auch für westdeutsche Bands wie Truck Stop und Tom Astor an. „Die Cowboyhüte habe ich damals aus zwei ganz normalen Filzhüten, wie sie auch Erich Honecker trug, gemacht“, erzählt Loman. „Irgendwann waren die so begehrt, dass ich eine Wartezeit von vier Jahren hatte.“ Das Know-how brachte sich der gelernte Werkzeugmacher und studierte Maschinenbauingenieur damals selbst bei, bei der Ausstattung verließ er sich auf die Beschreibungen Karl Mays, dessen Bücher er schon Anfang der Fünzigerjahre gelesen hatte. 1985 machte er sich als einer der ersten Handwerker in der DDR als Sattlermeister selbstständig und empfing in seiner kleinen Werkstatt alle, die sich in dem Land, das wenig Freiräume, dafür im Privaten jede Menge Platz für Utopien und Träume bot, von einem Hut, einem Westernsattel oder einem Gürtel einen Hauch der imaginären Weite und Freiheit Amerikas erhofften.
„Natürlich waren wir so etwas wie Regimegegner. Für uns war die ganze Cowboysache doch eine Form des Widerstands gegen diesen engen, kleingeistigen Staat. Die Südstaatenflagge bedeutete für uns Rebellion und Widerstand.“
Manfred Loman hat erst später erfahren, dass die Stasi ihn die ganze Zeit überwachen und dabei von Freunden und Bekannten bespitzeln ließ. Seine Akte hat er gelesen und sich dabei fast ein wenig gewundert, wie ernst die einstigen Machthaber die Countryszene genommen haben. „Dabei ging es uns doch im Grunde nur darum, die Freiheit zu haben, einfach einen Cowboyhut zu tragen und unsere Musik zu hören.“
Als die Mauer fiel und die ersten Westdeutschen in der Weihnachtszeit ohne den Zwangsumtausch von 25 Mark durch die DDR fahren konnten, sattelte Loman deswegen sein Pferd, zog sich sein Westernoutfit an, nahm die Südstaatenflagge in die Hand und stellte sich vier Tage lang auf eine kleine Anhöhe neben der Autobahn am Boxberg und begrüßte jedes einzelne Westauto, das er kommen sah. „Die Südstaatenflagge sollte zeigen, dass sich die Bevölkerung der DDR nicht mehr länger unterdrücken lässt. Und außerdem war die Begrüßung der Ostdeutschen in der Bundesrepublik so freundlich, als die Grenzzäune gefallen waren, dass ich jetzt auch etwas tun wollte.“ Ein in Deutschland lebender Amerikaner war so beeindruckt, dass er die Geschichte einem amerikanischen Countrymagazin erzählte, das daraus eine Story machte. Seither besuchen ihn Amerikaner, um sich den „verrückten Cowboy aus der DDR“ anzugucken, wie er selber sagt.
Mit Widerstand und Rebellion, aber auch mit den selbst gefertigten Cowboysachen hat das Festival in Schleusingen nichts mehr zu tun. Eine Veranstaltungsmaschinerie sorgt dafür, dass hier jedes Jahr zigtausende Menschen essen, feiern, schlafen und einkaufen können. Allein 1.000 Menschen arbeiten an den zahlreichen Ess- und Trinkbuden, wo es von Thüringer Bratwurst bis zur Chinapfanne alles gibt. Auf den Tischen liegen seriengefertigte Cowboyhüte, rund 35 Euro das Stück. Bands wie Truck Stop singen Lieder wie „Schließ die Augen und träum von den Cowboys“, die vom Leben der Lastwagenfahrer handeln oder von der Sehnsucht nach einer einfachen, überschaubaren Welt erzählen, in der Männer in die Prärie reiten können und ihre Tage nicht vor dem Fernseher verbringen müssen, weil es keine Arbeit gibt.
Dass Manfred Loman das kommerzielle Festival in Schleusingen meidet, bedeutet nicht, dass er seine Leidenschaft nicht vermarktet. Er hat eine eigene wöchentliche Musiksendung bei MDR 1 Radio Thüringen, vor zwei Jahren hat er dafür sogar einen Preis bekommen. In Amerika ist Manfred Loman bis heute nicht gewesen.
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