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berliner szenen Ganz neue Verhältnisse

Würmer im Mund

Wer seit siebzehn Jahren im gleichen Haus wohnt, für den birgt der Gang durchs Treppenhaus keine großen Überraschungen mehr. Vor zehn Jahren wurde im dritten Stock rechts das Schild „Vorsicht scharfer Hund“ gegen „Achtung pflichtbewußter Boxer“ ausgewechselt, im zweiten Stock wankt das Geländer und im ersten rechts hängt seit Jahr und Tag der in Salzteig gebackene Hinweis: „Wir leben unter unserem Niveau aber über unsere Verhältnisse“. Und plötzlich wird alles anders, plötzlich fliegt ein Vogel durch das schmale Flurfenster, knapp am Kopf vorbei, zielstrebig zur Wohnungstür links. Da hat er ein Nest gebaut, mit gewundenen Zweigen, so unnatürlich perfekt wie ein Osternest aus dem Deko-Laden.

Über wie wenig ornithologische Kenntnisse meine Besucher verfügen! „Eine Schwalbe, ein Mauersegler!“, wird da gemutmaßt. Dabei ist der Vogel größer als ein Spatz und kleiner als eine Amsel. Der Nachbar aus dem ersten Stock weiß Beschied, es ist eine Drossel und sie hat vier Eier im Nest liegen. Komme ich jetzt nachts spät nach Hause, schaut mich der Vogel böse an, erhebt drohend den Schnabel. „Liebe Frau Drossel“, denke ich genervt, „es tut mir leid, dass ich jetzt störe und das Flurlicht sie aus dem Schlaf geschreckt hat, aber ich wohne schließlich auch hier! Ich muss hier vorbei, und sie haben schließlich ihr Nest bei uns gebaut, es muss ihnen doch dabei klar gewesen sein, dass hier ständig Menschen vorbeigehen! Aber der Vogel schaut nur starr zurück. Seit einigen Tagen, seit die Jungen geschlüpft sind, hängt jetzt auch noch ein schwarzer Vogel mit orangefarbenem Schnabel bei uns im Treppenhaus ab, ihr Mann vermutlich: Manchmal hängen ihm lebende Würmer aus dem Schnabel.

CHRISTIANE RÖSINGER

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