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Mehr Rituale

Strategien gegen das „Unbehagen an der Demokratie“ werden auf der Tagung der Böll-Stiftung diskutiert

„Demokratie wagen“ – diesen schönen alten Slogan von Willy Brandt hat sich die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung an diesem Wochenende ausgeliehen. Im „Speicher XI“ in der Überseestadt eröffnete Böll-Chef Ralf Fücks gestern unter diesem Titel eine „Arbeitstagung“, wie er formulierte. Der Saal war brechend voll, mehr als 300 TeilnehmerInnen hatten sich angemeldet.

Es gehe um das „Unbehagen an der Demokratie“, deren Institutionen „an Bindekraft verlieren“, meinte Fücks. Er schaute beinahe sehnsüchtig hinüber in die USA, wo Barack Obama mit dem Appell an die Tugenden der Bürgergesellschaft Erfolg feiert. Vielleicht brauche man eben „Rituale, die die ganze Nation versammeln“ und nicht nur den „staubtrockenen Verfassungspatriotismus“, meinte er.

Bevor die „Arbeitstagung“ sich in Arbeitsgruppen aufteilte, stellte der Soziologe Claus Offe, der in Bremen über Jahre das Zentrum für Sozialpolitik geleitet hat, die aktuelle Problematik der Demokratie vor. Demokratie gebe es nur in souveränen Staaten, erklärte er, die seien das „Gehäuse der Demokratie“ – was im Umkehrschluss die Frage aufwirft, wie Demokratie in einem Land möglich sein kann, das immer mehr von Entscheidungen auf EU-Ebene oder den vermeintlichen Sachzwängen der globalisierten Ökonomie regiert wird. Demokratie verfalle eben, wenn die Regierenden über immer weniger zu entscheiden hätten, sagte Offe – mit seinem „Yes, we can“ beschwöre Obama die „governance capacity“, die Fähigkeit, zu regieren. Gleichzeitig sei auffällig, dass Obama „we“ sage, nicht „ich“, also das demokratische Wahlvolk einbeziehe.

In allen OECD-Staaten aber, so berichtete Offe von einer Umfrage, sei zwischen dem Jahr 1980 und 2005 das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Institutionen gesunken. Misstrauen und das Gefühl der Machtlosigkeit breite sich aus – weltweit.

Die Diagnose fiel also kritisch aus, die „guten Nachrichten“, die Offe dem Kongress für die Arbeitsgruppen mit auf den Weg gab, waren dagegen eher harmlos. Man könne Demokratie zu beleben versuchen mit der Idee, den Eltern auch für ihre Kinder Wahlrecht zu geben, erklärte Offe. Oder die Steuervergünstigungen für Vereinigungen streichen und stattdessen jedem die Verfügung über zum Beispiel 100 Euro geben, die er an Kirchen, Gewerkschaften, Umweltverbände oder andere „verteilen“ dürfe.

Dass mit solchen Schritten die Ursachen des Unbehagens an der Demokratie nicht aus der Welt geschafft würden, wird auch Offe wissen. kawe

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