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Debatte um die RuhrfestspieleDie Aufregung ist verlogen

Im Nachkriegsdeutschland, also in einer Zeit, in der die Ruhrfestspiele in Recklinghausen unter dem wunderschönen Motto „Kohle für Kunst - Kunst für Kohle“ gegründet wurden, hat der Arzt den Patienten, ganz aus dem Geiste des Wiederaufbaus, gefragt: „Was fehlt Ihnen?“ In Zeiten des Wirtschaftswunders - und danach, da wir uns über die Wirtschaft wunderten - lautete die Frage, stolz prosperierend: „Was haben Sie?“

„Zu viele Theaterfestivals!“- zumindest im Ruhrgebiet: Duisburger Akzente, Fidema, Mülheimer Theatertage, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Theaterzwang, Triennale und und und. Es herrscht Verdrängungswettbewerb. Was soll da die Aufregung über die schlecht besuchten Ruhrfestspiele? Castorf wird zurückgetreten wegen 35 prozentiger Platzausnutzung. Als ob Politiker und Gewerkschaftler, gerade gewählt oder lange im Amt, zurückträten, wenn ihnen die Mitglieder schwinden.

Die Aufregung ist verlogen: Erstens braucht ein neuer Mann Vertrauen und Unterstützung zumindest derer, die ihn gewählt haben, und Zeit, ein neues Publikum für sein neues Programm zu gewinnen (dies zu gestalten, dafür wurde er ja schließlich ausgesucht) und zweitens war doch sowieso klar - nur hat es keiner ausgesprochen -, dass die Triennale über kurz oder lang die Ruhrfestspiele schlucken würde, weil sie besser positioniert und kapitalisiert ist. Es sei denn, beide wären ästhetisch so unterschiedlich, dass es ihnen, sich auch noch zeitlich überlappend, gelänge, ihr jeweils eigenes Publikum zu akquirieren.

Wie könnte diese Unterschiedlichkeit aussehen? Sie sei hier grob und kritisierbar skizziert: Die Triennale macht den großen und internationalen Bahnhof - das schmeichelt dem Selbstwertgefühl der Bevölkerung, zieht Publikum, sorgt für Schlagzeilen und bringt, das ist das Wichtigste, sonst nicht zu Hörendes und zu Sehendes an die Emscher. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen kooperieren im schönen und großen Festspielhaus mit der Triennale und verschreiben sich ansonsten der theatralen Erkundung einer der interessantesten Gegenden Europas. Die Topographie des Ruhrgebiets gälte es zu begreifen als Ausdruck wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen und, genauso wichtig, als Seelenlandschaft seiner Bewohner.

Vielleicht könnten so die Ruhrfestspiele Recklinghausen zu ihrem innovativen Beginn zurückfinden und Kultur als Kohle begreifen – als Überlebensmittel.

KLAUS WEISE

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