: Angewandte Systemtheorie
Drehbücher müssen authentischer und lebendiger werden, finden Elisabeth Karsten und Verena Weese – und arbeiten dafür mit der Drehbuchaufstellung. Nach dem Vorbild der Familienaufstellung untersuchen sie fiktionale Stoffe auf ihre Tauglichkeit
von SANDRA LÖHR
Gebannt starren die Zuschauer auf die acht Menschen, die da in einer Art ungeordnetem Halbkreis stehen, sich abwechselnd tief in die Augen sehen, von Zeit zu Zeit ihre Positionen wechseln und mit konzentriertem Gesicht Sätze sagen wie: „Ja, meine linke Seite wird immer schwerer, ich fühle mich jetzt stark zu ihm hingezogen, obwohl das vorher nicht so war.“ Oder: „Gerade als die Idee zu der Geschichte gegangen ist, habe ich eine totale Bedrohung wahrgenommen.“
Von unerklärlichen Gefühlen und Wahrnehmungen ist an diesem Abend im Berliner b-flat, in das die Filmlounge die Berliner Filmszene geladen hatte, noch oft die Rede, denn schließlich geht es genau darum: Der Struktur einer Geschichte, die bisher nur eingesperrt in viele schwarze Zeichen und in Form eines Drehbuchs oder Exposés existiert, mit den Mitteln der Intuition beizukommen. Oder, wie es Verena Weese, Aufstellungsleiterin und quasi Dirigentin der seltsamen Menschenansammlung, ausdrückt: „Es geht um die Konzentration auf die Fähigkeit, Fremdphysisches wahrzunehmen. Das kann jeder.“
Was treibt also acht Erwachsene dazu, sich an einem Abend stundenlang in einem Raum wie Schachfiguren hin und her rücken zu lassen und sich mitunter gegenseitig schamlos erotischer Anziehungskraft oder abgründigen Hasses zu versichern?
Drehbuchaufstellung heißt die Methode, mit der fiktionale Stoffe auf ihre Tauglichkeit hin untersucht werden können. Entwickelt aus der Familienaufstellung des Therapeuten Bert Hellinger, findet sie mittlerweile immer mehr Anhänger in der Film- und Fernsehbranche. Die Dramaturgin Elisabeth Karsten und die Medienwissenschaftlerin Verena Weese lernten sich bei einem Drehbuchseminar kennen und waren sich einig, dass viel zu viele schlechte Drehbücher geschrieben werden. Lebendiger und authentischer müssten die Geschichten werden, fanden die beiden Mittdreißigerinnen und bieten deswegen seit zwei Jahren mit ihrer Script-Consulting-Agentur Story Docs die Drehbuchaufstellung an. Verena Weese kam über ein Philosophiestudium zu der Methode der systemischen Aufstellungen. Nach ihrem Studium lernte sie bei ihrer Schauspielausbildung die Methode der Familienaufstellungen kennen. Ihre Diplomarbeit beim anschließenden Aufbaustudium für Medienberatung an der TU schrieb sie dann über das Aufstellen von Drehbüchern. „Im Prinzip ist die Drehbuchaufstellung angewandte Systemtheorie. Und sie funktioniert immer, aber fragen Sie mich nicht, wieso.“
Wegen dieser Unerklärbarkeit ist die Methode, genau wie die Hellinger’sche Familienaufstellung, für einige die reinste Esoterik, für andere ein absoluter Geheimtipp, wenn es darum geht, eine Geschichte auf ihre Authentizität und Lebendigkeit hin zu überprüfen. Es ist auch schwer zu glauben: Bei der Aufstellung bestimmt ein Autor einige Stellvertreter für seine Drehbuchfiguren, die er von hinten an die Schultern fasst und sie gemäß zu der von ihm geschriebenen Geschichte im Raum zu einem Bild anordnet. Manchmal erfahren die Stellvertreter die Grundzüge der Handlung, manchmal ist selbst das nicht nötig. Alles, was die Stellvertreter dann wissen, ist der Figurenname. Sofort nach der Aufstellung stellen sich bei den meisten mal mehr, mal weniger starke körperliche Phänomene ein. Die Gefühlswelt der Figuren wird quasi lebendig, der Stellvertreter zu einer Art Medium. Der Autor kann so seine Geschichte live und dreidimensional erleben, ähnlich einem Designer oder einem Architekten, der seinen Entwurf visualisiert.
Die Story Docs sind aber nicht die Einzigen, die bei der Stoffentwicklung auf die systemische Aufstellung zurückgreifen. Matthias Varga von Kibéd, Professor für Logik und Philosophie, wandte die Methode zum ersten Mal 1995 in der Drehbuchwerkstatt der Hochschule für Film und Fernsehen in München an. Auch die Unternehmensberaterin und Psychologin Kristine Alex bietet mit ihrem Münchner Beratungsinstitut „Systeme in Aktion“ schon seit einigen Jahren Drehbuchaufstellungen an.
Das vermehrte Interesse der Filmbranche an der Methode sieht Verena Weese allerdings ganz unesoterisch begründet: „Die Produzenten und Sender können damit Geld sparen.“ Denn der Prozess von der Idee bis zum fertigen Film kann sich manchmal über mehrere Jahre hinziehen. Bis zu zehn Drehbuchüberarbeitungen oder mehr sind dabei keine Seltenheit. „Mit dieser Methode spart man sich mindestens drei bis vier Buchfassungen“, sind sich Weese und Karsten sicher.
Auch Sat.1 hat die beiden schon für eine interne Fortbildung gebucht. Angela Heuser, als Redakteurin zuständig für die TV-Movies, steht der Sache sehr aufgeschlossen gegenüber. „Die Drehbuchaufstellung ist sicher nicht für jeden Autor und Stoff geeignet, aber sie kann ein wichtiges Instrumentarium sein, wenn man merkt, dass die Geschichte irgendwo hängt. Das heißt aber nicht, dass danach die klassischen Drehbuchanalysen überflüssig werden.“
Um zu erleben, dass das alles wirklich funktionieren kann, muss man allerdings seinen aufgeklärten, kritisch geschulten Verstand für einige Zeit ausschalten – und einfach dran glauben. Homöopathie soll ja ähnlich funktionieren.
Die Aufstellungen finden jeden dritten Dienstag im Monat in der DFFB (Potsdamer Straße 2, über dem Arsenal) statt. Nächster Termin 19. 8.,18.30 Uhr. Anmeldung unter info@storydocs.com oder Tel. (03 31) 74 00 09 03
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