: Die Wütenden vor Werktor 3
20.000 Daimler-Beschäftigte protestierten in Sindelfingen gegen Lohneinbußen und Arbeitsplatzverlagerung
SINDELFINGEN taz ■ Wolfgang Sternal kämpft – nicht um seine Fünf-Minuten-Pinkelpause, nicht um den Spätschichtzuschlag ab 12 Uhr mittags, er kämpft um seinen kleinen Finger. Der Produktionsarbeiter mit den kurzen grauen Stoppelhaaren streckt ihn in die Luft und packt ihn mit der anderen Hand. „Erst den kleinen Finger, dann die ganze Hand“, brüllt er, während die Stange des roten IG-Metall-Transparents, die er unter den Arm geklemmt hat, gefährlich in Schieflage gerät.
Vor dem Werkstor 3 des größten deutschen DaimlerChrysler Produktionsstandorts in Sindelfingen hat sich die geballte Arbeiterwut versammelt. Die Hallen sind leer, alle Hallen, die Produktion steht still. 20.000 Arbeiter und Angestellte sind es, sagt der Betriebsrat, die allein hier protestieren – gegen die Drohung des Vorstands, die Produktion der C-Klasse nach Bremen und Südafrika zu verlagern, sollten die Arbeitnehmer nicht bereit sein zu Lohneinsparungen von 500 Millionen Euro. 6.000 der insgesamt 160.000 Arbeitsplätze stehen für die Sindelfinger auf dem Spiel.
„Hier geht es nicht mehr um Verzicht auf Luxusprivilegien“, schimpft Arbeiter Sternal, „denn flexibler und mehr als wir kann keine Belegschaft arbeiten.“ Erst geht der Vorstand an dieses Werk, befürchtet er, dann an den Rest, die symbolische ganze Hand. Um Sternal herum trillern tausende Pfeifen, aus den Lautsprechern dröhnen Wortfetzen von der Rednerbühne „Nicht mit uns“, „Erpresserwerk DaimlerChrysler“ und „Wir werden weiterkämpfen“.
Auch der Betriebsratsvorsitzende Erich Klemm findet für die Drohung des Vorstands nur unfeine Worte. „Kein Wunder, wenn jeder Depp mittlerweile die 40-Stunden-Woche fordert.“ Das kotze ihn an. Vor allem, dass der Vorstand nicht auf das Angebot der Arbeitnehmer eingegangen sei, 180 Millionen mit Verzicht auf Erholungszeiten und Sonderzuschlägen einzusparen. „Unser oberstes Ziel bleibt die Sicherung von Arbeitsplätzen“, betonte Klemm. Auch wenn sehr wohl klar sei, dass auch die Investitionen gesichert bleiben müssten. „Aber hier geht es nicht um Privilegien, hier geht es um den Flächentarifvertrag.“ Anders gesagt: um die Berechtigung der Gewerkschaften.
Der Vorstand hält sich an diesem Tag zurück. Geschlossen haben sich die Führungskräfte und Meister im Mercedes-Event-Center versammelt. Streiks und Demos, davon hat Wolfgang Sternal in seinen 33 Jahren bei Daimler einige erlebt. Diesmal aber, sagt auch er, ist es anders. „Es geht ums Wesentliche, diese Auseinandersetzung trifft jeden bei Daimler.“ Deshalb hat er sich an seinem Urlaubstag auch das rote IG-Metall-T-Shirt angezogen und pfeift und schreit und buht mit all den anderen mit. Deshalb ist er besonders stolz darauf, dass zum ersten Mal in der Geschichte von Daimler bundesweit an allen Standorten gleichzeitig protestiert wird: 10.000 in Stuttgart, 8.000 in Mannheim, 5.000 in Bremen und 1.000 in Berlin. Auch in Düsseldorf demonstrierten 3.000 Beschäftigte, zuvor war schon die Nachtschicht ausgefallen. Auf der Bundesstraße 10 zwischen Esslingen und Stuttgart blockierten laut Polizei rund 2.000 Arbeiter kurzzeitig die Fahrbahn. Und sogar aus Brasilien traf eine Solidaritätsbekundung ein.
„Diese Gemeinschaftlichkeit, die ist verdammt wichtig“, findet Wolfgang Sternal. Der 50-Jährige wäre als Zuliefer-Produktionsarbeiter der C-Klasse direkt betroffen. Die Lage ist ernster als sonst. Diesmal geht es nicht nur um Lohnerhöhung oder -kürzung, diesmal geht es um die eigenen Arbeitsplätze, um den gesamten Standort, der sich in einer globalisierten Arbeitswelt behaupten muss. Diesmal geht es den Streikenden um die Frage, wie viel ihre Leistung einem Unternehmen wert ist, das im letzten Jahr dreieinhalb Millionen Gewinn auswies und für das laufende Jahr viereinhalb prognostiziert.
„Daimler ist kein Sanierungsfall“, schimpft darum der Gewerkschaftssekretär Uwe Meinhardt in sein Mikro. Und deshalb gehe es diesmal um die grundsätzliche Frage: Wie viel Macht spielt das Unternehmen aus, wie viel soziale Verantwortung trägt es. Gewinnmaximierung gegen Arbeitnehmerrechte.
Die Wut vor Tor 3, die Parolen „Erpressung“, „Profitgier“ und „Amoklaufender Vorstand“ – sie sind bei diesem Protest eine sehr deutliche Antwort auf die Provokation seitens des Mercedes-Chefs Jürgen Hubbert, der anhand der hohen Lohnkosten „die Krankheit Baden-Württembergs“ diagnostizierte. „Da steigt in mir der Zorn hoch“, schreit Sternal gegen die Trillerpfeifen an. „Hier wird richtig malocht.“ Dass sich Vorstand und Betriebsrat dennoch einigen, daran glauben fast alle hier vor Tor 3. Zumindest das war ja noch immer so. SUSANNE LANG
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