Ganz zuunterst

2004 ist das Unesco-Jahr der Befreiung der Sklaven. Zwei Bücher erzählen die beschämende Geschichte der Sklaverei

Die Unesco erklärte 2004 zum Jahr der Befreiung der Sklaven. Zwei Bücher zeichnen die beschämende Geschichte der Sklaverei und des Sklavenhandels nach. Der französische Philosoph Christian Delacampagne zeigt in seiner Studie, dass es sich bei der Sklaverei – „Religion und Familie vielleicht ausgenommen“ – um eine der ältesten und beständigsten „gesellschaftlichen Einrichtungen“ handelt. Sie ist so alt, wie man die Menschengeschichte einigermaßen verlässlich rekonstruieren kann, also für einen Zeitraum von etwa 5.000 Jahren belegt.

Der Autor verwickelt sich jedoch mit der Bezeichnung der Sklaverei als „gesellschaftlicher Einrichtung“ in einen Widerspruch. Denn mit stichhaltigen Argumenten und Belegen vermag er zu belegen, dass die Sklaverei an zwei Bedingungen geknüpft war. Erstens musste ein Staat existieren, der sie erlaubt oder schützt, und zweitens ist sie nur dort nachweisbar, wo sich bereits eine Schriftkultur entwickelt hatte.

Die beiden Bedingungen hängen zusammen, denn die Entwicklung von Staatlichkeit und Schrift beruhen darauf, dass gesellschaftliche Verbände „eine Nahrungsmenge“ erzeugen, „die über dem lag, was für den Lebensunterhalt dieser Gemeinschaft erforderlich war“. Nomadische Verbände in Nordamerika und Ozeanien waren dazu nicht in der Lage und schufen deshalb weder Staaten noch eine Schriftkultur noch Sklaverei. Sklaverei ist – wie systematische Folter – immer und überall staatlich oder mit staatlicher Duldung organisiert worden.

Das frappierendste Faktum an Sklaverei und Sklavenhandel liegt jedoch darin, dass radikale Kritik daran – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – erst im 18. Jahrhundert aufkommt. Zu den Ausnahmen gehören der berühmte spanische Mönch Bartolomé de Las Casas (1474–1566) und Francisco de Vitoria (1485–1546), einer der Begründer des modernen Völkerrechts. Beide protestierten gegen die Versklavung der Ureinwohner nach der Eroberung Amerikas durch Kolumbus.

Die frühesten Formen von Sklaverei sind in der sumerischen Kultur in Mesopotamien im 3. Jahrtausend vor Christi nachweisbar. Dort existierte eine streng hierarchische Staatsordnung mit dem Adel an der Spitze und den Sklaven zuunterst. Der Rechtsstatus eines sumerischen Sklaven entsprach dem von Sachen oder Tieren. Dieser Status ändert sich in den Sklavenhaltergesellschaften der Ägypter, Israeliten, Griechen und Römer nur in Nuancen: Griechische und römische Sklaven konnten von ihren Herren freigelassen werden und Eigentum besitzen.

Im Unterschied zu vielen Mittelalterhistorikern möchte Delacampagne zwischen Sklaven und Hörigen/Leibeigenen nicht grundsätzlich, sondern nur graduell unterscheiden. Obwohl auch er einräumt, dass hörige Bauern „nicht an jeder wirtschaftlichen Eigeninitiative“ gehindert wurden. Insofern bildeten sie einen „Wirtschaftsfaktor“ (Georges Duby).

Eine tief greifende Wende der Sklaverei vollzog sich erst im 15. Jahrhundert mit dem Aufkommen des interkontinentalen Sklavenhandels. Europäische Gesellschaften entwickelten einen ungeheuren Bedarf an Zucker, den sie zuerst bei den Arabern kennen gelernt hatten. Um zunächst auf den Atlantischen Inseln und in Nordafrika Zucker anzubauen, kauften sie an der afrikanischen Küste Sklaven bei einheimischen und arabischen Sklavenhändlern. Sofort nach der Entdeckung Amerikas begann der transatlantische Sklavenhandel.

Von den rund elf Millionen Menschen, die zwischen 1500 und 1865 aus Afrika deportiert wurden, arbeiteten rund sechs Millionen auf Zucker- und zwei Millionen auf Kaffeeplantagen. An dem lukrativen Geschäft mit Gewinnspannen von 400 bis 500 Prozent beteiligten sich von europäischen Staaten monopolisierte Gesellschaften wie zum Beispiel die „Royal African Company“, die ein Monopol für 1.000 Jahre erwarb, oder „South Sea Company“, von der illustre Personen wie Daniel Defoe („Robinson Crusoe“) und der Physiker Isaac Newton ebenso Aktien kauften wie der Kanton Bern. Der Sklavenimport muslimischer Staaten beläuft sich auf etwa sechs Millionen Menschen.

Delacampagne zeigt, wie die Sklaverei nach dem Verbot des Sklavenhandels (zuerst durch Dänemark 1803) nicht aufhörte und wie der Kampf der Schwarzen um Menschenrechte und elementare Bürgerrechte nach dem Sieg der Nordstaaten (9. 4. 1865) im amerikanischen Bürgerkrieg noch über hundert Jahre lang weiterging. Im letzten Teil des Buchs beschäftigt sich der Autor mit der Fortdauer der Sklaverei (im Sudan etwa) sowie mit neueren Formen der Sklaverei (Zwangsprostitution, Kinderprostitution und Kindersoldaten).

Von ganz anderer Art ist das Buch des Kölner Historikers Michael Zeuske. Auf über 600 Seiten breitet der Autor ein immenses Material aus zur Geschichte der Sklaverei und der Sklaven zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert „im Herzen der Massensklaverei“. Die Karibikinseln Jamaika, Santo Domingo/Haiti und vor allem Kuba wurden zum Experimentierfeld der modernen, auf kapitalistischer Plantagenwirtschaft und hoch entwickelter Technologie beruhenden Sklaverei.

Schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten die Kubaner afrikanischer Herkunft die Mehrheit der Inselbevölkerung – allein zwischen 1763 und 1845 wurde 636.465 Sklaven von Afrika nach Kuba verkauft. Hier mussten sie zunächst in ingenios arbeiten, relativ kleinen Plantagen mit angeschlossener Zuckermühle. Später mussten sie in centrales schuften; das waren riesige Kombinate von Produktionsflächen und Veredlungsfabriken. Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) besuchte die Insel in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts und sah in der Sklaverei „das größte Übel aller Zeiten“. Er nannte die Ausbeutung der Sklavenarbeit bei ihrem wahren Namen: „Blutzucker“.

Begonnen hatte der systematische Import von afrikanischen Sklaven, nachdem 1543 die Versklavung der wenigen überlebenden einheimischen Indios unterbunden wurde. Aber bereits 1556 begann der Zuckerexport von Kuba nach Europa. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gab es erst etwa 5.000 Sklaven auf der Insel. Nach dem Übergang zur agrarindustriell organisierten Massensklaverei am Ende des folgenden Jahrhunderts waren es zehnmal so viele. Zeuskes materialreiche Studie leidet darunter, dass Autor und Lektorat die Stoffmenge nicht strafften und sinnvoll strukturierten. Viele Wiederholungen und langatmige Erörterungen machen es dem Leser nicht gerade leicht, sich im Materialhaufen zurechtzufinden. Das mindert die Verdienste des Buches.

Ärgerlicher sind die Versuche des Autors, seinen Stoff durch Vergleiche und Ausflüge ins Kulturelle aufzumöbeln. Mozarts Requiem von 1791 wird bei ihm „zur Totenmesse der Sklaverei des Ancien Régime“ und das „Zauberflöten-Phänomen“ zum „kulturalistischen Tanz“ in „heiligen Hallen … voller Sklaven“. Wer sich so inszeniert, sollte freilich das Liedchen, „Wollt Ihr nun tanzen, mein kleiner Graf“ („Se vuol ballare, Signor Contino“) aus Mozarts „Figaro“ nicht Beethovens „Fidelio“ zuschreiben. RUDOLF WALTER

Christian Delacampagne: „Die Geschichte der Sklaverei“. Aus dem Französischen von Ursula Vones-Liebenstein. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2004, 350 Seiten, 26 EuroMichael Zeuske: „Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavenkultur und Emanzipation“. Rotpunktverlag, Zürich 2004, 652 Seiten, 22,50 Euro