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fußball unter der grasnarbeKaderschmiede Ostfriesland

Wer denkt dieser Tage überhaupt an Fußball? Otto Rehhagel ist nur noch ein Gespenst aus verregneten Junitagen, Franz Beckenbauer führt lustlos ein paar Bewerbungsgespräche. Das Volk debattiert derweil wichtigere Fragen: ob es gerechtfertigt ist, für einen Sommertag ein Freibad zu öffnen und schaut ein bisschen gelangweilt glatt rasierten Männerbeinen unter südfranzösischer Sonne beim Strampeln in den Bergen zu. Und doch: In den Vereinen von Bundes- bis Regionalliga herrscht schon wieder hektische Betriebsamkeit: Ort der flachen Handlung: meist Ostfriesland.

Das Ganze hat natürlich auch einen schönen Namen, und der heißt Saisonvorbereitung. Was aber nur ein hübscherer Begriff für Strandurlaub mit Wellness-Einlagen ist. Die Herren Fußballspieler lümmeln sich tagsüber an der See, joggen ein bisschen durch den Sand und treffen sich am späten Nachmittag nach Kaffee und Kuchen zumeist zu einem unverbindlichen Kick mit dem hiesigen Dorfverein. Der endet dann gewöhnlich 32:1. Der Dorfclub darf auch einmal über einen eigenen Treffer jubeln, so gehört sich das, und demonstriert Volksnähe der Profivereine zur Basis der deutschen Vereinskultur.

Als ich noch meine Feder für ein ostfriesisches Presseorgan krümmte, waren diese Veranstaltungen Großkampftage für die Standortmedien. Wenn Werder Bremen zum Freundschaftsspiel bei Concordia Ihrhove auftauchte, jubelten die Berichterstatter schon Tage zuvor über ein Zitat des damaligen Werder-Managers, des unvermeidlichen Willi Lemke, der sinngemäß behauptet hatte, Ostfriesland sei „Werder-Land“. Anschließend wurden ganze Zeitungsseiten freigeräumt, um den Auftritt von Basler – tja, liebe Werder-Fans, der hat mal bei euch gespielt. Kein Grund also, über Gebühr auf diesen Verein stolz zu sein. Als Regensburger Trainer will er euch eh nur aus dem Pokal werfen – und Co zu feiern. Der Ekstase sich nähernde Vereinspräsidenten, gemeinhin doppelkinnige Mittelständler, die mit ihrem Unternehmen den Ton in der Gemeinde angeben, ernannten diesen Samstag zum schönsten Tag der Clubgeschichte. Kleine Kinder werden sich Jahrzehnte später, wenn sie als ausgewachsene Angestellte der Kreissparkasse Leer ihre persönliche Endstufe erreicht haben, daran erinnern, wie es anfing, ihre Beziehung zum SV Werder Bremen. Solche Veranstaltungen stiften Sinn und Identität für ein ganzes Leben. Am Montag danach gab es viel Lob von der Chefredaktion für die Sportberichterstattung, die die beste seit Monaten gewesen sei. Dann war Werder allerdings schon wieder weit weg, irgendwo hinter Oldenburg in der großen Stadt.

SC Freiburg, FC St. Pauli – mediokre Studentensportvereine scheinen eine besondere Vorliebe für den Sommeraufenthalt im Ostfriesischen zu haben. Freiburgs Coach Volker Finke im Strandkorb von Langeoog – das ist jeden Juli ein Muss für die Fotoredaktion der Heimatpresse. Und die St. Paulianer hat es in diesem Jahr nach Middels bei Aurich verschlagen, einem Nest ohne irgendetwas, an das man sich Tage nach dem Besuch des Ortes noch erinnern würde. Und damit sehr passend zur Gegenwart des FC St. Pauli.

Saisonvorbereitung am Nordseestrand, was könnte symbolischer sein für eine Spielzeit, die anschließend bestenfalls im Sande verläuft. Insofern wundert es doch schon sehr, dass der Hamburger SV und der VfL Wolfsburg sich im Sommer 2004 nicht in Wiegboldsbur oder Westerende-Kirchloog haben blicken lassen.

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