lesen sie mal: auf bremens seiten: Das Trauma des russischen Ohrs: St. Petersburg
Sankt Petersburg ist eine Stadt voller Gespenster: Im Heumarkt geistert Raskolnikow herum, über den Newski Prospekt spaziert Gogols „Nase“ und im Sommergarten flattern einem unweigerlich die fragilen Verse Anna Achmatowas entgegen. Lebende Dichter haben es hier nicht leicht. „Die Vergangenheit verstellt buchstäblich den Blick. Sie lähmt, sie verwandelt in Gespenster“, schreibt Aleksandr Skidan. Unter dem Titel „Nach danach“ bringt die aktuellen Ausgabe der „Horen“ neue Poesie aus Sankt Petersburg zur Sprache.
Die vierteljährlich erscheinende Literaturzeitschrift wird seit 49 Jahren in Bremerhaven produziert und widmet sich exotischen Literaturen aus aller Welt. Die sechs Dichter, die Gabriele Leupold und Georg Witte für das aktuelle Heft ausgewählt haben, sind Vertreter dreier Generationen der Petersburger Poesie und knüpfen an die Tradition des „Samizdat“ an, der unabhängigen Untergrundliteratur zur Sowjetzeit. Seit den Neunzigern erobern sich Lyriker wie Vladimir Kucerjavkin, Viktor Sosnora oder Dimitrij Volcek eine neue Öffentlichkeit.
Die Auswahl kann und will nicht repräsentativ für die St. Petersburger Literaturszene sein, jedoch setzt sich das Heft bewusst mit den charakteristischen Einflüssen der Stadt auf das Schreiben auseinander. „Vom Nutzen und Nachteil St. Petersburgs für das Leben“ lautet Skidans einleitender Essay. Schon der Name der Stadt, so Skidan, muss eine traumatische Erfahrung für das russische Ohr gewesen sein. Peter I. bastelte ihn gleich aus drei fremden Sprachen zusammen: Latein (“Sankt“, heilig), Griechisch (“Peter“, Fels) und Deutsch (“Burg“, Festung). Mit St. Petersburg sollte die russische Vision einer europäischen Hauptstadt verwirklicht werden. Aus dem Sumpf stampfte man protzige Paläste im Stil der Antike, Renaissance und Barockzeit. Seit die Hauptstadt von den Bolschewiken wieder nach Moskau verlegt wurde, schreibt Skidan, fungierte Sankt Petersburg nur noch „als Grabstätte, als Begräbniskirche, als Nekropole der russischen – lies: vorrevolutionären – Kultur.“
Nicht nur Sankt Petersburg, auch seine Literatur gleicht einem Museum. Als stehe an jeder Ecke ein Museumswärter, der den Finger an die Lippen legt, „sind wir oft mitten im Wort verstummt./ Gespenstische Kette von Dingen, aus denen/ ein Ding zu werden keinem gelang“, schreibt Arkadij Dragomoscenko, sodass auch „wir uns nie von der Stelle bewegen,/ erstarrt, wie im Kinderspiel“. Gegen die übermächtige Tradition schreibt Boris Konstriktor avantgardistische Poesie – „Vogelschnitzel/ kwi kwi kwi“ – und Dimitrij Golynko philosophiert über „Elementare Dinge“, die mindestens so resigniert erscheinen wie Houllebecqs Elementarteilchen.
Die Abbildungen dazu zeigen Filmszenen von Evgenij Jufit, dem Erfinder des „Nekrorealismus“. Seine Filme sind eine Art Persiflage auf sozialistische Heldenlegenden und zeigen vornehmlich junge, dürftig bekleidete Männer, die sich in Vorortwäldern prügeln. Die Sumpfwesen schwanken zwischen Unsterblichkeit und Lebensmüdigkeit – Sankt Petersburg hängt eben doch an seinen Gespenstern. Sibylle Schmidt
„die horen“ 9,50 €
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