strafplanet erde: das peinlichste, was es überhaupt geben kann von DIETRICH ZUR NEDDEN:
Die Umstände waren Schuld, die Produktionsbedingungen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in einer deduktiven Engführung möglicherweise eine halluzinogene Tagesform evozierten; die dusselige Hitze, der großkalibrige Alptraum der vergangenen Nacht, der gärende Krips und der faulige Kraps halt, den man ansonsten mit nobler Ignoranz zu strafen sucht, der aber dann plötzlich und unerwartet wie eine Todesanzeige die Atmosphäre lädiert, Sie verstehen schon. Nein? Na, dann anders: Es war so ein Montagmorgen, an dem man vom Rasieren „schon so müd“ ist; noch bevor man die Post gesichtet, die E-Mails geöffnet, das Telefon erstmals abgehoben hat, „ist die Substanz schon leer und ausgeglüht“.
Im Großraumbüro meiner Firma begann der Tag nach dem einschlägigen Muster: Die Sekretärin quasselte munter – Kunststück! Der zarte Flaum auf ihrer Oberlippe verlangte nicht nach dem Einsatz einer Klinge –, quasselte also von ihren Wochenendvergnügungen, wozu ein „Superdepri-Film“, in den sie ihr neuer „Lover“ geschleppt habe, „definitiv nicht“ gehörte. Ihm dagegen habe der Film gefallen, so dass es im Anschluss an den Kinobesuch „voll nervige Diskussionen“ gegeben habe, bis das präsupponierte „Wohlfühlfeeling“ zwar zögerlich, schließlich aber doch eingesetzt habe.
Einer meiner Angestellten aus dem operativen Geschäftsbereich – der einzige Mensch, den ich kenne, dem Haare auf der Nasenspitze wachsen – lektorierte seit Tagen das Manuskript einer wissenschaftlichen Publikation mit dem weitläufigen Titel „Zur Porositätsabhängigkeit der Feldeigenschaften von Sinterwerkstoffen“. Den Titel wusste ich mittlerweile auswendig. Was ich nicht wusste, war, ob es ihm schon aufgefallen war, dass er länger dafür brauchte als James Joyce für „Finnegans Wake“. Eines stand fest: Der Faktor Arbeit war in meinem Betrieb definitiv zu teuer, „Schwachleister und Unwillige“, wie kürzlich ein Geschäftsführer des Reifenherstellers Continental diejenigen genannt hatte, die einer Kostenreduzierung im Wege stehen, konnte ich nicht mehr dulden.
Abwechselnd warf ich nun böse Blicke mit integrierter Kündigungsdrohung in Richtung des Mitarbeiters, tippte an dem Konzept für eine Ferntouristenkidnappversicherung – Taliban-Klausel und Al-Qaida-Aufschlag inklusive – und knabberte pflichtschuldig an einem Hasenbrot von vor den Sommerferien.
Je nun, und dann passierte es. Etwas im 21. Jahrhundert ganz und gar Peinliches, Unverzeihliches; das Hassenswerteste, Niederträchtigste und Verdammungswürdigste, das ich mir vorstellen kann. Ich ertappte mich dabei, einen Aphorismus geschrieben zu haben. Für so dumm, so uneinsichtig und lernresistent hatte ich mich nicht gehalten, das war eine Überraschung, ein Schlag ins Kontor gewissermaßen. Ein Aphorismus! „Wer Angestellte hat, darf sich nicht (hinten) anstellen“, so etwa, nein, vielmehr: „Substanz ist, wenn die Suppe Tanzen geht“ oder so ähnlich. Den Zettel geistesgegenwärtig zerknüllen und in die Tonne treten war eins. Niemand würde je davon erfahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen