: Auschwitz, 2. August
Am 2. 8. 1944 wurden in Auschwitz 2.897 Sinti und Roma in nur einer Nacht umgebracht. Ist das Gedenken nach sechzig Jahren Routine? Nein.
VON STEFAN KUZMANY (TEXT) UND MATTHIAS LÜDECKE (FOTOS)
Johann Petermann, Emil Balki, Martha Daniel, Konrad Broschinski. Nach Auschwitz. Was zieht man da an? Dunkel, hat die Protokolldame am Telefon gesagt. Ist ein grüner Anzug dunkel genug? Ein dunkelgrüner? Eine Krawatte? Der Kollege hat drei, die leiht er gerne aus, eine gestreifter als die andere. Das geht nicht. Du fährst nach Auschwitz? Meine Schwester bekommt Besuch aus Australien, der will unbedingt in ein Konzentrationslager, kannst du den nicht mitnehmen? Er hat gesagt, er würde gerne ein Picknick machen im Konzentrationslager. Das geht nicht.
Otto Broschinski, Amalie Herak, Arthur Broschinski, Oswald Herzberg. Was ist denn in Auschwitz am zweiten August? Befreiung, sechzigster Jahrestag? Nein, die war später. Und die würde der Schröder doch wohl selbst machen. Was war denn in Auschwitz vor sechzig Jahren am zweiten August? Keine Ahnung. Der Auftrag lautet: mit Jürgen Trittin, dem Bundesumweltminister, zum Gedenken nach Auschwitz, Abflug 8.30 Uhr, Berlin-Tegel, militärischer Teil, Rückkehr 17 Uhr. Trittin vertritt Joschka Fischer, den Außenminister und Vizekanzler, der vertritt Gerhard Schröder, den Kanzler.
Ah ja, Kranzabwurf, sagt ein Kollege. Wie das klingt: Ein bundesdeutsches Ufo, eine offizielle Gedenkmaschine, schwebt nach Auschwitz, wirft ein Blumengebinde ab, schwebt davon.
Kein Ufo, eine Rakete. So fühlt sich das an, wenn eine „Challenger“ der deutschen Bundeswehr startet, mit dem Minister und seinen Begleitern an Bord, und jetzt gibt es auch das: „Programm des Bundesministers Jürgen Trittin anlässlich der Teilnahme an der Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Auflösung des Sinti- und Romalagers in Auschwitz-Birkenau am 2. 8. 2004“
Bruno Florian, Bruno Herzberg, Eduard Florian, Hermann Morgenstern. Zweiter August 1944. Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau beginnt die Vergasung der letzten 2.897 Sinti und Roma. Am dritten August wird das Lager aufgelöst.
Zweiter August 2004, halb zehn Uhr. In einer Wagenkolonne mit Polizeieskorte vom Flughafen Krakau nach Auschwitz-Birkenau. Eine Kollegin von einer anderen Tageszeitung telefoniert mit der Redaktion: „Ich bin mit Trittin in Auschwitz, Gedenktag Befreiung des Sinti- und Romalagers. Wollt ihr was haben?“ Die Zentrale bestellt vierzig Zeilen. „Sauregurkenzeit“, sagt die Kollegin. Draußen sausen Birkenwälder vorbei. Eugen Weiss, Bernhard Weiss, Maria Siebert, Gertrud Brojanski.
Wir kommen um halb elf an in Auschwitz-Birkenau. Grell leuchtet die Sonne auf die riesige Fläche des Lagergeländes, auf den Stacheldrahtzaun, auf die Ruinen der Baracken des Abschnitts B II e, von der SS „Zigeunerlager“ genannt, nur die Fundamente stehen hier noch und die Schornsteine. Vor dem Tor stehen viele Menschen, sehr alte, ganz junge, einige kleine Kinder, aus ganz Europa angereist. Kaum jemand trägt hier Anzug oder Krawatte. Stattdessen: viel Freizeitkleidung, breite Hüte, bunte Tücher. Erinnerungsfotos vor dem Zaun. Es gibt Alte, die krempeln die Ärmel hoch, zeigen sich gegenseitig ihre tätowierten Häftlingsnummern. Es sieht aus wie ein Familientreffen.
Die deutschen Nationalsozialisten wollten nicht, dass es diese Familien gibt, sie sollten sterben, aussterben, zwangssterilisiert oder ermordet werden, Hunger und Krankheiten überlassen, in die Gaskammern geschickt. Aber diese Menschen hier, es mögen insgesamt vielleicht vierhundert sein bei dieser Gedenkveranstaltung, haben überlebt, leben, haben Kinder und Enkel. Die Nazis haben bis zu einer halben Million dieser Menschen ermordet. Aber sie haben nicht gesiegt. Es ist schön, diese Familien zu sehen an diesem sonnigen Tag.
Einige hundert Meter im Innern des Lagerabschnitts befindet sich ein Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma. Die eigentliche Zeremonie beginnt, mit Ansprachen von Überlebenden, von Sprechern europäischer Sinti- und Roma-Organisationen, von Regierungsvertretern. Längst nicht alle Besucher haben Platz auf den bereitgestellten Klappstühlen. Viele stehen. Manche haben sich ins Gras gesetzt. Es ist, bei aller Würde und bei allem Ernst, tatsächlich ein wenig wie ein Picknick.
Der Wind trägt Namen herüber, mal unhörbar, dann lauter, in den Pausen zwischen den Reden deutlich, eine Frauenstimme, dann eine Männerstimme, abwechselnd, Adolf Franz, Ludmilla Franz, Siegfried Pohl, Johannes Balek, Horst-Adolf Pohl, Robert Ernst, Ewald Ernst, Willi Ernst, Sophie Petruski, weit hinten steht ein Lautsprecher, daher kommen sie, die Namen von Sinti und Roma, die von den Nazis ermordet worden sind, unablässig, 21.000 Namen aus dem Gedenkbuch der Sinti und Roma. Es dauert zwei Tage, bis alle gelesen sind.
Jetzt spricht einer, der überlebt hat: Hugo Höllenreiner, heute 70 Jahre alt, geboren in München, der Vater Josef Fuhrunternehmer, die Mutter Sofie kümmerte sich um sechs Kinder, als Neunjähriger wurde er mit seiner Familie und sechzig anderen in einen Eisenbahnwaggon gepfercht und hierher gebracht.
„Wir kamen nachts in Auschwitz an. Alles war grell angestrahlt, überall standen Wachtposten. Wir mussten uns in 5er-Reihen aufstellen. Der Schwager meines Vaters wurde mit dem Gewehrkolben zusammengeschlagen. Wir übernachteten auf dem blanken Boden eines Zugangsblocks. Am nächsten Morgen wurden wir zur Entlausung mit weißem Pulver eingestäubt. Mama weinte, als ihr die Haare abgeschnitten wurden. Uns wurden die Nummern eintätowiert. Die Erwachsenen standen nackt umher und schämten sich. Da wusste ich, es wird schlimm.“
Gebannt hören ihm alle zu, die die deutsche Sprache verstehen, hören, wie er davon berichtet, dass alle sofort Spritzen bekamen, viele davon krank wurden, die Ersten starben. Doch nicht nur Schreckliches weiß Höllenreiner zu berichten, es ist unglaublich, aber eine Geschichte, die er hier erlebt hat, die sie hier erlebt haben, gibt sogar Hoffnung.
„Am 15. Mai 1944 hieß es, das ganze Lager werde vergast. Die Blockältesten beschlossen, sich zu wehren. In der Nacht kamen Lastwagen ins Lager, luden die ungarischen Roma aus den Zugangsblöcken auf und fuhren sie zum Krematorium in den Tod. Als der erste Lastwagen vor unseren Block brauste, hielt Mama uns ganz fest. Vater stand unten mit dem Pickel in den Händen. Bei ihm waren sein Bruder Baptist mit einem Schaufelstiel und der Sinto Willi Ernst. Ein SS-Mann befahl uns, herauszutreten. Vater schrie so, dass die Baracke zitterte: ‚Wir kommen nicht raus! Wenn ihr was wollt, müsst ihr reinkommen!‘ Draußen war es still. Nach einer Weile kam ein Motorrad, die SS-Männer sprachen miteinander. Dann fuhren das Motorrad und der Lastwagen aus dem Lager. Wir atmeten auf. Auch in den anderen Blocks hatten sich Menschen mit Knüppeln, Messern, Werkzeugen und angeschliffenen Metallstücken bewaffnet, um Widerstand zu leisten.“
So hatten die Sinti und Roma in dieser Nacht ihre Vernichtung abwenden können. Einige, darunter Höllenreiner und seine engste Familie, wurden bald darauf in andere Lager gebracht. Durch glückliche Fügung überlebten sie. Wer bleiben musste, starb in der Nacht zum dritten August. Hans Habedank, Paul Dambrowski, Siegfried Klein, Karoline Horwath.
Zwar leben die Sinti und Roma, aber sie leben, wo sie leben, am Rand der Gesellschaft. Jürgen Trittin erinnert in seiner kurzen Rede an eine Begebenheit in Zittau im April dieses Jahres. Dort hatte sich eine Gruppe von Roma auf dem Festplatz niedergelassen. Die Sächsische Zeitung berichtete von „Müllhinterlassenschaften“. Die Roma hatten für die Entsorgung bezahlt. Im Voraus. Die Berichterstattung hielt an. Eines Nachts grölten betrunkene Jugendliche vor dem Lager, kappten die Stromzufuhr. Die Roma zogen weiter. Und der Bürgermeister von Zittau bedauerte ihren Abzug – nicht etwa weil er sich für die Zittauer Jugend schämte, sondern weil er noch die Stromrechnung eintreiben wollte. „Gerade wegen solcher Ereignisse ist es notwendig, daran zu erinnern, welch grausame Verbrechen an Sinti und Roma begangen wurden. Und deshalb ist es gut, dass diesen Verbrechen mit einem Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin gedacht werden soll.“ Bei der Wahl der Inschrift, sagte Trittin im Namen der deutschen Regierung, sollten deren Repräsentanten das letzte Wort haben. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland, fordert, dass es ein Satz von Roman Herzog sein soll, gesprochen als Bundespräsident 1997: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nazionalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.“ Baubeginn soll im Spätsommer 2005 sein.
Es sind nicht nur die spielenden Kinder, die jetzt um eine Barackenruine rennen, es sind nicht nur die vielen, die sich in der Hitze auf dem Gras niedergelassen haben und sich erst einmal eine Zigarette anzünden, es liegt auch an dem Repräsentanten der Bundesregierung, dass man hier als Deutscher zwar beschämt, aber unverkrampft stehen kann. Viel zu selten kann man das über einen Minister dieser Regierung schreiben: Hier macht Trittin alles richtig. Das Entzünden der Kerze am Krematorium V, dem Ort der Gaskammern. Das Innehalten an der Stelle, an der ein Foto entstanden ist von Frauen, die hier warten mussten, weil die Gaskammern gerade besetzt waren. Die Lektüre der Lebensläufe von Ermordeten, mit hier gefundenen Familienfotos rekonstruiert. Der außerplanmäßige Besuch einer Ausstellung über den Völkermord an den Sinti und Roma im Stammlager Auschwitz. Nie wirkt sein Interesse aufgesetzt, seine Betroffenheit geheuchelt. Es scheint, als sei es kein Zufall, dass Trittin heute Deutschland vertritt. Vor zehn Jahren koordinierte er als niedersächsischer Europaminister die deutschen Hilfsgelder für den Erhalt der Gedenkstätten in Auschwitz. Herr Trittin, Sie repräsentieren hier den deutschen Staat. Sie müssen immer ein interessiertes Gesicht machen. Aber Sie erfahren doch nichts Neues mehr? „Man erfährt hier immer etwas Neues.“, sagt der Minister.
In der internationalen Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz, der letzten Station dieser Reise, ist auch der Überlebende Hugo Höllenreiner wieder dabei. Den Gang zum Krematorium hatte er ausgelassen, die neuen Schuhe drückten zu sehr. Jetzt hat er sie ausgezogen und steht in Socken da. Er hat seinen Cousin untergehakt, auch er ein Überlebender von Auschwitz. „Aus Berlin kommen Sie?“, fragt der Cousin. „Mit dem Trittin? Das ist ein guter Mensch.“
„Na, was hast du angezogen für deinen Auschwitz-Trip? Wie war der Kranzabwurf?“, fragt abends der Kollege. Man erfährt immer etwas Neues.
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