: Ist Deutschland am Ende?
Reformchaos, Rechtschreibwahn und jetzt auch noch Olympiadebakel in Athen. Keine Helden, kaum Medaillen, nur Gezeter
Nein. Und Merkel hilft auch nichts.
Einen Zusammenhang zwischen gefühlter Lage im Allgemeinen und deutscher Medaillenunfähigkeit gibt es nicht. Die Lage ist gut – doch es fehlen die Helden, die sie verkörpern. Man kann ja schon die Einschätzung zur Lage der Nation bestreiten: die Montagsdemos nicht als Zeichen von Unruhe lesen, sondern als luxurierende Rebellionen in zweifelhaften Bündnissen.
Tatsächlich geht es den Deutschen ziemlich gut. Gemessen an Tunesien, nicht am Fürstentum Monaco. Allein: Es fehlt an Biss (wie Nils Schumann), an Heldentum (wie Kurt Bendlin), an Lust am Sieg (Michael Groß), der zivilisierten Sorte natürlich. Das schlägt sich selbstredend im Medaillenspiegel nieder. Wie sind eine Gesellschaft, die Menschen mit Entschuldigungen hervorbringt und keine Fighter. Die einen fünften Platz als weltgrößte Tragödie verstanden wissen wollen: Typisch deutsch, selbst die Niederlage weinerlich zu nehmen (Ausnahme: Antje Buschschulte). Figuren wie Heide Rosendahl, Ulrike Meyfarth, Heike Drechsler, Annegret Richter, Dagmar Hase oder Waldemar Cierpinski gibt es nicht mehr. Die Nation verliert und ist beleidigt. Die deutsche Misere spiegelt sich in der Medaillenausbeute: Man bekommt nichts mehr geschenkt – und nimmt übel. Daran kann übrigens auch Merkel nichts ändern. JAN FEDDERSEN
Alltime-Held: Heide Rosendahl, (München 1972)
Letzte Hoffnung 2004: Birgit Fischer, Kanutin
Nein. Dein Durst entscheidet.
Ja: Die Firma Deutschland erleidet auf dem internationalen Markt einen Imageschaden. Weit über den Sportmarkt hinaus. Wie in anderen Bereichen (Politik, Wirtschaft) ziehen Mitkonkurrenten vorbei. Ja: Der Rest der Welt fühlt sich beim Anblick von Sportlerin Buschschulte, TV-Heulsuse Haas oder Eltern van Almsick in dem Vorurteil bestätigt, dass die legendäre Leistungskraft des deutschen Volkes komplett in das Bejammern der nicht mehr optimalen Situation fließt. Und ja: Die große Olympiazerstreuung fällt bei gemäßigt nationalistischer Betrachtung bisher aus. Die prognostizierte Medaillenanzahl wird auch nächste Woche längst nicht erreicht. Und deutsche Helden, also Athleten, die sauber UND erfolgreich sind UND berühren, werden in Athen wohl kaum gemacht.
Das schafft Raum. Also jetzt nicht mitzetern, dass wir das Erbe des Ostens kaputtgemacht haben mit kontraproduktivem Kontrollfimmel, nicht hadern mit den Trainingsplänen der Schwimmer. Oder der Lethargie der Leichtathleten (das kommt noch). Auch nicht ersatzhalber über die Familiendinge des Kanzlers sinnieren. Sondern rausgehen. Nicht gegen Medaillenarmut protestieren. Sondern für mehr Medaillen TRAINIEREN. Nix: Die anderen sind zu satt. Dein Durst entscheidet. Du rettest Deutschland! Oder noch besser: deine Kita. PETER UNFRIED
Alltime-Held: Dieter Kottysch (1972)
Letzte Hoffnung 2004: Vielleicht Judo?
Ja. Endgültig, ultimativ.
Ein Bild für die Götter, auf dass sie endlich in sich gehen mögen und den deutschen Sportlern zu Hilfe eilen: Antje Buschschultes Blick auf die Anzeigentafel, die für sie eine Minute, eine Sekunde und neundreißig Zehntel anzeigte und einen schlimmen sechsten Platz im 100-Meter-Rücken-Finale.
Groß aufgerissene Augen, in denen das totale Entsetzen stand, die totale Enttäuschung, die totale Fassungslosigkeit. Danach, nach den Worten „Mein Gott, Scheiß, vier Jahre Training im Wind“, erfolgte der Zusammenbruch, ein haltloses Wegtauchen unter den Kameras. Einen Tag später, die Götter haben nicht geholfen, kein Zusammenbruch zwar und wenigstens ein abgeklärter Umgang mit den distanzlosen Reportern von ARD und ZDF, aber eben auch: Fassungslosigkeit. Franziska van Almsick wird Fünfte und sagt, was man so sagt eine halbe Minute nach einem Rennen: Ich weiß nicht, ich kann jetzt nichts sagen, ich bin jetzt wie alle ein bisschen tot.
Es läuft nicht gut bei Olympia. Eigentlich läuft es überhaupt nicht, nicht nur nicht in Athen, sondern auch nicht in Deutschland. Alle sind irgendwie ein bisschen tot, Jan Ullrich, der DFB, die Rechtschreibreform, Hartz IV, you name it. Das „Riesen-Desaster“, das „totale Scheitern“, „die Super-Enttäuschung“ – Deutschland fällt nun endgültig in die ultimative kollektive Depression, und nicht mal „ein Sieg gegen die Ohnmacht und die Trauer“ (SZ) wie der der Judoka Yvonne Bönisch dürfte für Stimmungsaufhellung sorgen.
Oder spinnen wir jetzt alle? Kann uns eine Schwimm-Medaille aus der wirtschaftlichen Talsohle führen? Erträgt der Arbeitslose in Ostdeutschland sein Hartz-IV-Los leichter, wenn Franzi eine Medaille gewinnt? Lacht er dann wenigstens auf der nächsten Montagsdemonstration?
Man mag das alles kaum glauben. Aber wenn dem so sein sollte, oder besser: wenn dem so gewesen wäre, kann man jetzt nur kongenial fassungslos konstatieren: Nach diesen Olympischen Spielen wird es kein Leben in Deutschland mehr geben. Oder eben nur noch eins, das aussieht wie Antje Buschschulte nach ihrem 100-Meter-Rücken-Finale. GERRIT BARTELS
Alltime-Held: Karlheinz Smieszek (1976, Schießen)
Letzte Hoffnung 2004: keine
Unbedingt. Zeit für eine Castingpause!
Einen Magic Moment gab es doch tatsächlich bei diesen Spielen: Franziska van Almsick, kurz vor dem Rennen, sitzt einfach nur da, verharrt. Auf den Ohren alienhaft anmutende Kopfhörer. Aus der Goldhoffung wird für einen kurzen Moment die Schwimmmaschine, einsam, ganz bei sich selbst, das Lärmen und Rauschen der Medien-Öffentlichkeit ausgeblendet. Dann mussten die Kopfhörer ab. Kein Magic Gold.
Aber wir brauchen doch ein Aufbruchssignal! Aus deutscher Sicht ist Olympia 2004 nicht mehr als eine pompöse Casting-Show, die den oder die perfekten Werbeträger für die zu reformierende Deutschland AG finden soll. Am besten eine Ost-Frau, ca. 13 Jahre (minus x) alt, unentdecktes Talent, Langstrecken-Läuferin. Wenn man sportliche Ereignisse tatsächlich als kulturelle Performances wertet, deren Sinn darin besteht, die sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Werte im Ritual zu bestätigen, dann verwundert dies auch gar nicht: All die gescheiterten deutschen Medaillen-Hoffnungen verkörpern das perfekte Personal für eine Gesellschaft, die nur noch Erwartungshaltungen aufbaut, um festzustellen, dass es für diese gar keine Casts geben kann.
Letztlich nehmen sich die Athleten selbst diese Performance so sehr zu Herzen, dass sie sich nur mehr spielen und als Helden zitieren. Zeit für eine Casting-Pause! SUSANNE LANG
Alltime-Held: wird noch gesucht
Letzte Hoffnung 2004: Timo Boll (Tischtennis)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen