: Chaotischer Aufbruch in die Demokratie
Intrige und Verschwörung, lauten die Vorwürfe. Es gibt Tumulte. Doch dann einigt sich die Nationalkonferenz auf ein vorläufiges Parlament
BAGDAD taz ■ Ismael Zayer ist Journalist, und als solcher versteht er sich auf dramatische Auftritte. Nach stundenlangem Tauziehen stand am späten Dienstagabend endlich die Abstimmung über die Listen mit den Kandidaten für das irakische Interimsparlament auf der Tagesordnung. Um kurz nach acht war es soweit. Zayer stürmte wutentbrannt aus dem Saal, in dem die Nationalkonferenz seit vier Tagen tagte. „Das war eine Verschwörung“, schimpfte der Journalist. Der Herausgeber der Tageszeitung Sabah Jidida (Der neue Morgen), der sein Blatt schon mal gern mit der Frankfurter Allgemeinen vergleicht, warf den großen Parteien vor, seine Liste „Demokratische Allianz“ durch Intrigen zu Fall gebracht zu haben. Sie hätten etwa drei Dutzend ihrer Parteigänger auf seine Liste gesetzt, von denen einige in letzter Minute ihre Kandidatur wieder zurückzogen, so dass die Liste am Ende nicht mit den erforderlichen 81 Namen aufwarten konnte. „Die Demokratie hat noch nicht einmal richtig begonnen, da hat man ihre Prinzipien schon wieder außer Kraft gesetzt“, sagte Zayer.
Der wortgewaltige Zayer war bei weitem nicht der Einzige, der am vierten Tag der Konferenz für Tumulte sorgte. Am Nachmittag brach unter den Turkmenen ein erbitterter Streit darüber aus, wer die Minderheit im Interimsparlament vertreten sollte. Vertreter zweier Parteien, die mit den beiden großen kurdischen Parteien sympathisieren, lieferten sich einen heftigen Wortwechsel mit Delegierten von der durch die Türkei unterstützten Turkmenischen Front. „Wir wollen keine Abgeordneten, die als verlängerter Arm der Nachbarländer agieren“, brüllte ein Delegierter aus Kirkuk.
Auch unter den verschiedenen christlichen Vertretern kam es zum Streit, wer die Minderheit im Parlament vertreten soll. Die Abgesandten aus Basra wiederum machten ihrer Empörung gleich vor der Presse Luft. Sie stürmten empört in den ersten Stock, wo die Journalisten untergebracht waren, und drohten mit dem Rückzug von der Konferenz. „Basra hat 4 Millionen Einwohner, aber nur einen Sitz“, rief ein älterer Mann in traditioneller arabischer Kleidung in die Mikrofone. „Was ist das für eine die Demokratie?“
Wie so oft auf politischen Konferenzen ging auch in Bagdad in den letzten Stunden der Konferenz das harte Feilschen los, in diesem Fall um die Zusammensetzung des Interimsparlaments. Am Morgen hatte der Vorbereitungsausschuss den Delegierten noch einmal einen Fristaufschub gewährt, um eigene Listenvorschläge einzureichen. Diese mussten allerdings die im Vorfeld der Konferenz beschlossenen Quoten für die ethnischen, religiösen und politischen Gruppierungen sowie für Frauen, Basisgruppen und Stammesscheichs erfüllen. An der Frauenquote von 25 Prozent drohte sogar die Liste der „Irakischen Nationalen Einheit“ zu scheitern, für die vor der Konferenz fünf Parteien, die schon vor dem Sturz des Regimes ein Bündnis eingegangen waren und die später auch den Regierungsrat dominierten, intensives Lobbying betrieben. Als Einzigem gelang es Zayer und seinen Mitstreitern mit der „Demokratischen Allianz“ eine Alternativliste aufzustellen, allen anderen gelang es nicht einmal, die nötige Zahl von 81 Nominierten zusammenzubringen.
Im Grunde genommen seien die Oppositionellen an einem Grundprinzip der Demokratie gescheitert, sagte ein ausländischer Beobachter. „Es ist ihnen nicht gelungen, ausreichend starke Allianzen zu bilden.“ Am Ende zog Zayer seinen Listenvorschlag zurück, verzichtete aber dann doch auf seinen Wahlboykott. „Aus nationalem Interesse“, wie er sagte. Genau das haben viele Iraker, die die Veranstaltung nur vor den Bildschirmen verfolgen konnten, bei den Delegierten oft vermisst. Wie im Basar hätten sie sich aufgeführt, lautet ein häufiger Vorwurf.
Nach dem Rückzug der Alternativliste stand automatisch die „Irakische Nationale Einheit“ als Wahlsiegerin fest. Sie bringt nun so ungewöhnliche Parteien wie die beiden religiösen schiitischen Fraktionen, den Hohen Rat für die Islamische Revolution (Sciri) und die Dawa-Partei, mit den säkularen kurdischen Parteien, der Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union (PUK), sowie der Nationalen Eintracht (Wifaq) von Ayad Allawi unter ein Dach. Mit von der Partie ist aber auch die einflussreiche sunnitische Islamische Partei sowie etliche kleine Parteien, die Minderheiten oder bestimmte Regionen repräsentieren. 10 der 81 Sitze gingen an Stammesvertreter, weitere 10 an Repräsentanten der so genannten Zivilgesellschaft. Die kurdischen Parteien haben 16 Sitze, wobei KDP und PUK auch die einflussreiche „Islamische Vereinigung Kurdistans“ und kleinere Parteien mit ins Boot holten.
Das Interimsparlament soll bis zu den für Januar geplanten ersten Wahlen die Regierungskontrolle ausüben. Obwohl es selbst keine Gesetzesanträge einbringen kann, müssen Gesetzesinitiativen der Regierung vom Parlament bestätigt werden. Zudem muss der Haushalt von den Abgeordneten bestätigt werden. Darüber hinaus können die Parlamentarier der Regierung gegebenenfalls das Misstrauen aussprechen oder den Rücktritt einzelner Minister verlangen. In Praxis wird sich zeigen, wie tragfähig das nun geschlossene Zweckbündnis ist.
Nicht jeder von Zayers Liste sah den Wahlausgang so düster wie der Journalist. „So ist es eben in der Demokratie“, sagte Hamid Kefayi. „Manchmal ist es chaotisch. Aber dafür haben wir doch so lange gekämpft.“ INGA ROGG
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen