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Passagen ins Nichts

Neue Heimat, verzweifelt gesucht: Michael Winterbottom erzählt von einer Flüchtlingsodyssee quer über die halbe Welt. Sein Film „In this World“ setzt die fruchtbare Tradition des Migrationsfilms fort

von BIRGIT GLOMBITZA

Manchmal kann man noch die Hand vor Augen sehen. Wenn kurz eine Taschenlampe aufblitzt, um dann wenig später ganz zu verlöschen. Dann bekommt die Todesangst für einen Moment eine Kontur, und man sieht die menschliche Ladung des Containers: Männer, Frauen, Kinder, Babys. Das Drama vom Sterben ereignet sich als ein erschütterndes Hörspiel. Das schwere Atmen, das verzweifelte Klopfen an den Metallwänden, als die Luft knapp wird. Bis die Kraft nachlässt, bis es still wird.

Dieser schwarze Moment, in dem die Effekte der Leinwand sich ins Dunkel des Kinosaals fortsetzen, ist sicher der fragilste und gewagteste von Michael Winterbottoms „In this World“. Er treibt die Dilemmata all der Filme auf den Punkt, die sich den Themen Flucht und Migration widmen. Da ist zum einen das Problem, aus einer entindividualisierten Masse, die von Ladeflächen zu Ladeflächen verfrachtet wird, eine individuelle Geschichte herauszuschälen. Und zum anderen der Konflikt, den Einzelfall nicht zum schicksalshaften Passionsweg ohne jede Allgemeingültigkeit zu stilisieren. Auch „In this World“ blendet nicht immer souverän von seiner exemplarischer Fiktion zum weiten Feld des Faktischen auf.

Der Film, den Winterbottom mit Laien und einer vagen, nur 30 Seiten langen Drehbuchvorgabe gedreht hat, erzählt von der traumatischen Odyssee des 15-jährigen Afghanen Jamal. Von einem Flüchtlingslager im pakistanischen Peschawar an der afghanischen Grenze – einem Ort, an dem rund eine Million Flüchtlinge unter erbärmlichen Bedingungen lebt – bricht er zusammen mit seinem Cousin Enayatullah auf nach London.

Die Reise führt Jamal und Enayatullah vorbei an korrupten Beamten, dubiosen Kontaktmännern und immer wieder an aufreibenden Passkontrollen, bei denen jedes falsche Wort in einer falschen Sprache zum Verhängnis werden kann. Ein interkontinentaler Transfer, der seine Ladung in einen Warenkreislauf überführt, in dem sich der Wert ihres Lebens stetig minimiert. In den porösen, schnörkellosen Bildern einer digitalen Handkamera erzählt der Film eindrucksvoll von der ungeheuren körperlichen Belastung und besonders von der Verzweiflung, die die beiden antreibt und ihnen jeden Rückweg versperrt. Und es ist vor allem der donnernde Off-Kommentar, der neben der opulenten Musik und all den ungelenk einmontierten Landkarten und Routen diese unmittelbare Wahrhaftigkeit stört. Methoden, mit denen Winterbottom die individuellen Irrfahrten auf den Kurs des Parabelhaften zwingt, um schließlich einen routinierten Appell an die Menschlichkeit anzustimmen.

Migration ist das Thema unserer Zeit. Und sicherlich setzen die Jurys der Berlinale und des Bundesfilmpreises ein Zeichen, wenn sie „In this World“ mit dem Goldenen Bären oder „Lichter“ von Hans-Christian Schmid mit einer silbernen Lola auszeichnen. Das Motiv der Flucht, der Transit vom Vertrauten ins Fremde, ist längst ein Teil der Geschichte des Kinos. Mit ihm verbinden sich die großen Erzählungen von einem entdeckten, eroberten und immer wieder aufs Neue verteidigten Amerikas, die Mythen des Westerns. Epen von ausziehenden Völkerscharen, vom Exodus aus unwirtlich und feindlich gewordenen Heimatländern. Aussiedler, Verfolgte und Pioniere, die sich zu Eroberern erheben, zu Kultivierern eines überhöhten Individualismus oder zu Rebellen, die für ihre Gefolgschaft neue Territorien und Rechte einfordern.

Motivische Muster, die seitdem in vielen Migrationsfilmen variiert wurden. So bringt Otto Preminger in seinem legendären „Exodus“ von 1960 jenes historische Rebellentum unter, das dem amerikanische Siedlertum einst den nötigen Feuerschutz vor fremden Einflüssen besorgte. In „Exodus“ sorgt dies für eine ideologische Hemdsärmeligkeit, die den menschliche Anspruch auf Freiheit, Würde mit einer gehörigen Portion Abenteuerlichkeit auflädt.

Beginnend mit einem katastrophenfilmartig zugespitzten Hungerstreik auf einem Flüchtlingsschiff, mit dem hunderte von staatenlosen Juden vor der Küste Zyperns ihre Weiterfahrt nach Palästina erkämpfen, spannt Preminger den Handlungsbogen bis zur Siedlungspolitik in den Jahren von 1946 bis 1948. Während die Weltmächte unentschieden der Errichtung einer neuen jüdischen Nation zusehen, die Engländer sie aus alten Verpflichtungen den Arabern gegenüber nach Kräften sabotieren, rebelliert Paul Newman in der Rolle des Ari Ben Canaan als eine Art Nachwuchs-Moses gegen antisemitische Verfrachtungs- und Verhinderungspolitik und führt sein Volk über die Meere ins geheiligte Land.

Trotz aller politischen Vereinfachungen und Bedenklichkeiten blieb „Exodus“ lange Zeit der einzige bedeutsame westliche Film, der seinen Blick auf Israel lenkte. Eine ebenso engagierte wie massenwirksame (zudem oscarprämierte) Produktion, die man getrost als Hollywoods moralische Anschubhilfe für einen umkämpften Staat lesen kann.

In Elia Kazans Epos „America, America“ (1963) fällt das Aufständische seines Helden Stathis deutlich chaotischer und diffuser aus. Was sein leidenschaftlich herbeigesehntes Ziel New York in der Ferne nur umso omnipotenter und auratischer erstrahlen lässt. Auch Kazan entwirft seine Ausgangsmisere in einem feindlichen Europa. Stathis Familie zählt zur griechischen Minderheit in Anatolien und wird von den Türken systematisch in Abhängigkeit und Armut gehalten. Auf dem Weg in das Land seiner Träume verliert er den kompletten Familienbesitz und verdingt sich schließlich als Geliebter einer Händlersgattin. Eine dreistündige Ausreise-Tortur, deren Bitterkeit auch der nachrichtliche Epilog von Stathis erfolgreicher Integration nicht mehr zurücknehmen kann.

In Gianni Amelios „Lamerica“ (1994) wird das amerikanische Versprechen auf eine individuelle Glückserfüllung als dementer Traum eines verwirrten Greises konterkariert, der nicht begreifen will, dass das völlig überbevölkerte Flüchtlingsschiff nicht in die Staaten, sondern bloß ins italienische Bari ausläuft: „So viele Leute. Ich dachte nicht, dass alle kommen würden. Aber Amerika ist groß!“ Doch von Albanien aus gesehen beginnt der goldene Westen bereits in Italien. Und für Italien ist Albanien wiederum ein hervorragender Industriestandort, um EU-Subventionen zu kassieren. „Lamerica“ ist nicht nur eine Satire über die Auslagerung italienischer Wirtschaftsplündereien, sondern auch ein Film, der seinen Hauptakteur Gino auf eine unfreiwillige Bildungsreise durch ein desolates Land schickt, um ihn ohne Pass auf einem Flüchtlingstransporter enden zu lassen. Im Meer wartender, fremder Körper findet Ginos bewegte Exkursion zu ihrem Endpunkt, der zugleich eine ästhetische Schnittstelle zwischen den Motiven Reise und Flucht markiert.

Die Reise im Kino ist klassischerweise gekennzeichnet als ein lustvoller Zwischenzustand zwischen Abfahrt und Ankunft, als Passage der Verwandlungen und Initiationen, die sich über nichts so sehr freut wie über die Bewegung selbst. In Flucht- oder Flüchtlingsfilmen kulminiert die Spannung im Stillstand. Wie im Albtraum, wie im klaustrophobischen Containerdunkel. Hier breitet sich keine Zeit aus und registriert in schöner Selbstreferenzialität ihren Verlauf. In ihnen wird nicht nur die Luft knapp, sondern auch die Zeit und der territoriale Raum sowieso. Sie handeln vom Tod, von letzten Hoffnungen und anderen Grenzen. Vom Kreisverkehr der Sehnsüchte, von Bewegungs- und Freiheitsphantasmen, die im Stillstand ernüchtert zu sich kommen. Export und Import, Leben und Sterben. Der Wartesaal vorm Transit als Grundstimmung, für die André Téchiné in „Weit weg“ (2002) in Tanger und Hans-Christian Schmids „Lichter“ (2002) in Słubice bzw. Frankfurt/Oder den perfekten Umschlagplatz findet.

Vom Verharren, Verstecken, Sichten und Verfolgen im Niemandsland zwischen Mexico und Arizona erzählt Chantal Akerman in ihrem Dokumentarfilm „De l’autre Côte“ (2002). Sie besichtigt die Reviere der Menschenjäger und lässt in Interviews Grenzpatrouille wie Grenzgänger zu Wort kommen. Der Film konfrontiert die anonyme Macht des Faktischen mit Berichten Einzelner und lässt Abstraktion und Erlittenes kollidieren, wenn er mit einer Infrarotkamera eine Ansammlung sich langsam fortbewegender weißer Flecken beobachtet. „Wir kommen aus dem Nichts, wir gehen ins Nichts“, zieht einer von ihnen einmal Bilanz.

In „Tarifa Traffic“ (2003), dem klugen und präzisen dffb-Abschlussfilm von Joakim Demmer, sind es dunkle Punkte am Horizont vor der spanischen Südküste. Manchmal tauchen welche unter, der Blick verliert sie. Andere werden größer, schaffen den Weg zum Strand, werden Männer, Frauen, Kinder, die vor Kälte zittern und von einem Offizier der Guardia Civil ungeschickt zu Aufwärmübungen animiert werden. Die Toten spült das Meer am nächsten Morgen an den Strand, bevor die Surfer und Wellenreiter kommen. Und nur in Ausnahmefällen nimmt ein Verwandter die Kosten und Mühen auf sich, eine Leiche zu identifizieren und sie zurück nach Marokko zu bringen.

In dokumentarischen Filmen wie diesen braucht es keine Off-Erklärungen, ist die Wucht des Tatsächlichen stärker als herausgespielte Individualgeschichten. Sie zeigen eine Welt voller Gegenwelten, auch solche, in denen dunkle Punkte und weiße Flecken einmal Namen hatten.

„In this World“. Regie: Michael Winterbottom. Mit Jamal Udin Torabi, Enayatullah, Imran Paracha u. a. England 2003, 89 Minuten

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