: Relativer fremdeln
„Der Südländer zeigt in jeder Situation ein demonstratives Gebaren“, wusste man 1963. Was Fremdsein heute bedeutet, erkunden im Braunschweiger Museum für Photographie zwölf Künstler – fern der aktuellen Kampfzonen
Es ist kein Zufall, dass Norddeutschlands einziges reines Lichtbild-Museum in Braunschweig steht: Niedersachsens Vize-Metropole war Produktionsstätte der legendären Voigtländer-Kameras und ist Sitz des Rollei-Unternehmens für Fototechnik. „Kunstfotografie ist nur ein Teil unseres Programms“, sagt Wiebke Ratzeburg, Leiterin des dortigen Museums für Photographie.
Das Spektrum der jährlich sechs Wechselausstellungen umfasst Dokumentationen zur Fotografietechnik, „alte MeisterInnen“ wie Gisèle Freund, bedeutende Zeitgenossen wie Tatsumi Orimoto, aber auch Ausstellungen zu aktuellen Themen. Zu ihnen zählt auch die derzeit präsentierte Schau: Was heißt hier fremd? fragte das Museum – und ein Dutzend Künstler aus der Region fanden visuelle Antworten. Mit denen wolle man, so der Katalog, in die „vielschichtige gesellschaftspolitische Diskussion“ einsteigen und ihr „neue Impulse“ geben.
Neue Impulse? Die meisten Arbeiten beschränken sich auf eher phänomenologische Variationen zum Thema. Zum Beispiel die farblich verfremdeten „Schrift-Porträts“ von Franziska Rutz, echte „Hingucker‘“ auf hohem ästhetischem Niveau. Sie spielen mit der Dialektik von Nähe und Distanz: Frauen ausländischer Herkunft schreiben in ihrer Muttersprache über das Leben im längst vertrauten Deutschland. Diese Zeilen hat Rutz mit den Porträts zu Fotomontagen verschmolzen.
Doch Fremdsein im Jahr 2003 erschöpft sich nicht in der Konfrontation mit der Ignoranz Hiesiger, wie sie die von Rutz porträtierten Ausländerinnen beschreiben. Stehende Begriffe sind auch: „Illegale Migranten ohne Papiere“. „Flüchtlinge in Abschiebezentren“. Auch damit ließe sich künstlerisch zeitgemäß umgehen, wie es andernorts mehrfach die Gruppe „Kein Mensch ist illegal“ bewiesen hat – insbesondere mit ihren Deportation-Class-Performances, simulierten Abschiebungsflügen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Nur: So nah an die aktuellen Kampfzonen wagen sich die Fotografen im Braunschweiger Museum nicht. Sie beschränken sich lieber auf Botschaften wie: „Ausländer können wie Deutsche aussehen“, „Fremdsein ist relativ und kann ganz schön weh tun“. Das stimmt zwar, bleibt aber, wie jede triviale Erkenntnis, herzlich harmlos.
Einigen von ihnen gelingt die Annäherung allerdings doch: Ivano Polastri etwa beschäftigt sich in seiner Arbeit Italiener in Wolfsburg mit den sich verändernden Lebensbedingungen von Migranten. Er zitiert aus einer Semesterarbeit über ausländische Arbeitskräfte von 1963: „Der Südländer zeigt in jeder Situation ein demonstratives Gebaren.“ Solche heute grotesk wirkenden Sprüche konfrontiert er mit aktuellen Fotos der italienischen Gemeinde in der Volkswagen-Stadt. Bemerkenswert ist auch die interaktive Video-Performance Home X der „blackhole-factory“: Diese Künstler haben Menschen aus etlichen Ländern interviewt und ihre Wohnungen gefilmt. Ton und Bild wurden voneinander getrennt. Die Zuschauer fügen sie in der Braunschweiger Ausstellung in neuen Konstellationen zusammen wie in einem Kaleidoskop: So erscheint auf der Leinwand die Innenansicht einer Hütte, die an brasilianische Favelas erinnert. Dazu ertönt vielstimmiges Schweinegrunzen. Später erst rückt die große Mastanlage eines norddeutschen Bauern ins Bild.
Das Phänomen Fremdheit ist entscheidend durch politisch-soziale Vorgaben bestimmt – und diese Kategorie lässt sich durch Kunst allein nicht überwinden. Sie hätte in Braunschweig aber radikaler thematisiert werden können. KATHARINA MÜLLER
Was heißt hier fremd? Museum für Photographie, Helmstedter Str. 1, Braunschweig. Geöffnet Di–Fr 13–18, Sa/So 14–18 Uhr; bis 5. 10. Katalog 16 Euro