: Liebe, ohne zu erblinden
Ob Marktwirtschaft, Fellatio oder Putin – Viktor Jerofejew porträtiert das neue Russland, seine „fröhliche Hölle“, sein interessantestes Land der Welt, mit einer Wucht aus Liebe und Hass, die den Leser schier umhaut. Ein herrlich wahnwitziges und geistreiches Buch
Im Spiegelkabinett der modernen russischen Literatur nimmt der inzwischen 62-jährige Viktor Jerofejew eine hervorragend schillernde Position ein. Ältere Weggefährten wie Andrej Bitow und Wladimir Makanin sind inzwischen zu „Klassikern“ mutiert, während Jerofejew immer noch mit Verve den Satyr und Bad Boy gibt.
Seine Biografie mag es erklären: Der Kenner von de Sade und des französischen Existenzialismus wuchs im Zentrum der Sowjetmacht auf – der Vater gehörte zu Stalins Hofstaat – und verbrachte einen Teil seiner Jugend im Ausland. In Verbindung mit dem politischen Mord an seinem Vater (bewegend beschrieben in seiner Doppelbiografie „Der gute Stalin“) verwirkte er 1979 auch eine glänzende Karriere, als er mit anderen die Samisdat-Prosasammlung „Metropol“ zusammenstellte, ein erster Versuch, in der UdSSR unzensiert zu veröffentlichen.
Im Zeichen von Glasnost wurde er rehabilitiert, und sein erster Roman „Die Moskauer Schönheit“, ein Aufruhr im Land der literarischen Keuschheit, war ein sensationeller internationaler Erfolg. Die von Hamlet gerühmte Verbindung von „Blut und Verstand“ kennzeichnet durchgängig auch Jerofejews Prosa.
Stärker als andere Autoren seiner Generation ist Jerofejew ein Kosmopolit, gleichzeitig ist er tief in jener literarischen Tradition verwurzelt, zu deren wichtigsten Repräsentanten Nikolai Gogol, Andrej Platanow, Leonid Dobytschin und Daniil Charms gehören. Sie alle vereint eine Überzeugung – dass das Absurde die echte Natur Russlands ist, dass es hier nichts Laborhaftes oder Experimentelles hat.
In „Die russische Apokalypse“ richtet dieses „dämonische Talent“ nun seinen Laserblick auf „das Land der siegreichen Apokalypse“, auf „eine fröhliche Hölle“. Die politische, philosophische, ökonomische und moralische Landschaft Russlands hat sich schockartig so radikal verändert, dass man als Chronist leicht die Orientierung verlieren könnte. Nicht so Jerofejew.
Er liefert eine kritische Bestandsaufnahme der aktuellen Realität mit überraschenden, anregenden, lebendig formulierten Einsichten voller ästhetischer und ethischer Ambivalenzen. Eigenwillig, grell, extrem, vulgär, elegant und immer ironisch grundiert: In vier Abteilungen kommentiert der Autor in 45 Essays russische Befindlichkeiten und Phänomene der unterschiedlichsten Art – es ist ein herrlich wahnwitziges und geistreiches Bouquet.
Themen sind etwa der „Mat“, die Vulgärsprache, in der das obszöne Wort eine metaphysische Dimension gewinnt, Tschechows Sex-Life („Bordelle – das wichtigste Theater seines Lebens“), die Gulag-Siedlung Norilsk („das Golgotha des Nordens“), der russische Witz und russischer Humor, Solschenizyn, der lamentable Zustand der entmachteten Intelligenzija, aber auch Russland als Avantgarde exotischer Erotik.
Es gibt ergötzlich Luzides zum Geld und zur Marktwirtschaft, zu den kompliziert gewordenen Geschlechterbeziehungen, dann natürlich ein Loblied auf die junge russische Frau („Mit einem Bein steht sie auf dem Feld der klassischen russischen Kultur, genauer gesagt ihren Ruinen, mit dem anderen in der Disko“), es werden im russischen Kontext Fellatio, Freundschaft und Hedonismus behandelt, und schließlich gibt Jerofejew in einem offenen Brief an Putin die traditionsreiche Rolle des Volkstribuns (oder des altrussischen heiligen Narren?).
Putins „Autoritarismus mit menschlichem Gesicht“ und dessen Popularität erklärt er unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass das Land innerhalb eines Jahrhunderts zweimal (1917 und 1991) seine Grundwerte änderte und angesichts der monströsen Konstante der russischen Geschichte damit, dass sich nach der sowjetideologischen „Orgie des Humanismus“ (Andrej Platanow) nun die Möglichkeit ergeben hat, ein freies Privatleben zu führen.
Jerofejew beweist hier auf schönste Art, dass Liebe nicht blind machen muss: „Je länger ich lebe, desto zärtlicher liebe und hasse ich dieses Land.“ Vielleicht ist Russland, einem Gedanken Andrej Bitows folgend, tatsächlich kein zurückgebliebenes Land, sondern ein vorzeitiges Land, das den Rohzustand der globalisierten Welt zeigt. Für Jerofejew ist es jedenfalls das interessanteste Land der Welt, „ein Paradies für Schriftsteller … und eine Hölle für Leser“.
In „Die toten Seelen“ entließ Nikolai Gogol bereits 1842 seine Leser mit der Frage: „Wohin stürmst du, Russland? Gib Antwort! Du schweigst.“ Die Zukunft ist offen, Russland ist wieder auf der Reise zu sich selbst.
Und was erwartet die russischen Schriftsteller und Künstler, die russischen Menschen in der Zukunft? Jerofejew: „Kalte russische Winter mit einem Glas Wodka, Salzgurken, marinierte Pilze und heiße Kohlsuppe. Russischer Frühling mit den venenblauen Schatten der Bäume. Vieles erwartet sie. Russland ist reich an Talenten.“
EGBERT HÖRMANN
Fotohinweis:Viktor Jerofejew: „Russische Apokalypse“. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2009, 256 Seiten, 22 Euro
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