: Keine putzige Rasta-Folklore
betr.: „Präzise Sachlichkeit fehlt“, LeserInnenbriefe vom 1. 9. 04
Mir fehlt in dem Leserbrief von Christian P. Oehmichen die präzise Sachlichkeit, die er in der Debatte um homophobe Inhalte jamaikanischer Musik einfordert. Laut Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Dieses Menschenrecht ist grundlegend verletzt, wenn eine Person physische oder psychische Gewalt aufgrund ihrer sexuellen Identität befürchten muss oder erlebt.
Ansichten zu Homosexualität, wie zu Religion, kann und sollte es vielfältige geben. Die dabei vertretenen Positionen – und den Anspruch auf Rechte – bestimmten geografischen Regionen oder kulturellen Aspekten zuzuordnen, ist extrem gefährlich und schlichtweg ignorant. Auf der ganzen Welt gibt es in unterschiedlichsten Kulturen Traditionen vielfältiger sexueller Identitäten. Der westliche homosexuelle Lifestyle oder die „Queer-Bewegung“ sind in ihrer jeweiligen Vielfältigkeit Beispiele dafür. Auf der ganzen Welt gelten für Menschen aller sexuellen Identitäten dieselben Menschenrechte. Hier zu unterscheiden, wäre in der Tat fatale westliche Dominanz. Oder anders formuliert: Warum soll ich in Deutschland das Recht in Anspruch nehmen, sicher und wegen meiner sexuellen Identität weitgehend unbehelligt zu leben, eine Lesbe in Jamaika dieses Recht aber nicht in Anspruch nehmen dürfen? Weil sie nicht in einem „westlichen“ Land lebt? Weil sie nicht in Europa lebt? Weil sie schwarz ist? Weil sie vielleicht ärmer ist? ANKE GUIDO, Hamburg
Mittlerweile bin ich ja einiges an Ignoranz gewohnt und nehme die Ahnungslosigkeit der meisten meiner heterosexuellen Mitmenschen gnädig hin. Die Leserbriefe zur „Hetze“ gegen Dancehall-Stars, die zur Gewalt gegen Schwule aufrufen, haben mich allerdings doch überrascht und schockiert.
Angesichts der Hysterie um die Homo-„Ehe“ ist wohl den meisten Menschen nicht mehr klar, dass Schwule und Lesben in Deutschland auch heute keineswegs ungefährdet durch ihr Leben gehen können. In einer voll besetzten Kölner U-Bahn sahen sich mein Freund und ich einmal von einer Gruppe von jungen Männern umringt, die sich lautstark allerlei Todesarten für uns ausdachten. Die anderen Fahrgäste hörten lieber weg. Ein schwuler Bekannter erzählte mir, wie er auf offener Straße krankenhausreif geschlagen wurde, in einer Weise, die vermuten ließ, dass die Täter ihn totprügeln wollten und er nur Glück hatte, den Angriff zu überleben.
Irgendwie fehlen mir seitdem Gelassenheit und Distanz, wenn ich Mordaufrufe gegen Schwule höre. Ein öffentlicher Mordaufruf, wie auch immer er genau gemeint ist, hat nichts mit putziger Rasta-Folklore zu tun. Und sich solches öffentlich zu verbitten, ist keine Unterdrückung der Meinungsfreiheit und schon gar keine „Hetze“. Wenn jemand einer Gruppe von Menschen das Recht auf Leben abspricht, dürfen sich die Betroffenen wohl bitte schön noch darüber aufregen und Konsequenzen fordern. Dass es auch unter Heterosexuellen selbstverständlich wird, sich gegen Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit auszusprechen, egal wo sie auftritt, ist wohl leider zu viel erwartet. Dies aufgrund unserer homophoben Kulturtradition für immer zu verzeihen, allerdings auch. VOLKER BEER, Marburg
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